Samira Aziz* hält noch ihr Brautkleid in den Händen, als sie vom Flughafen in das Krankenhaus fährt. Sie kommt gerade aus Paris, ihr Kopf steckt voller Pläne für die anstehende Hochzeit, für die gemeinsame Zukunft mit ihrem Bräutigam. Sie wollen bald aus ihrer politisch unsicheren Heimat nach Dubai umziehen, der talentierte Architekt und die erfolgreiche Geschäftsfrau. Doch mit einem Schlag wird an jenem Tag aus Samira eine Braut ohne Bräutigam.
Ihr Verlobter liegt schwer verletzt in der Klinik, ein Polizist hat ihm ins Auge geschossen, die Ärzte können nichts mehr für ihn tun. Samira Aziz bleibt keine Zeit, um zu trauern; sie muss das Land verlassen, die Mitglieder der politischen Gruppierung, der ihre Familie angehört, wurden zu Terroristen erklärt. Sie flieht mit Verwandten in den Sudan, dort soll sie einen alten Mann heiraten, zum Schutz der Geflüchteten im fremden Land. Sie wehrt sich nicht, ohne ihren Verlobten hat das Leben für die 32-Jährige jeden Sinn verloren. Doch Freunde organisieren gefälschte Papiere, ein Schlepper bringt sie nach Deutschland. Ihre Geschichte zeigt, was Flüchtlinge nach ihrer Ankunft brauchen, um auch psychisch zu überleben.
In loser Folge berichtet die SZ, was Krieg, Terror und Folter mit Gesellschaft und Menschen machen. Alle Texte der Serie finden Sie hier ...
Im März 2014 kommt Samira Aziz in München an, aus der wohlhabenden Businessfrau ist ein mittelloser Flüchtling geworden, ohne Pass, ohne Hoffnung, jemals zurückzukehren in ihre Heimat, die hier geheim bleiben muss. Wie vor Angst erstarrt sitzt Samira Aziz schließlich in der Sprechstunde der Psychiaterin Stephanie Hinum. Vor der Ärztin sitzt ein schmales Wesen mit leerem Blick, vornübergebeugt im Sessel, wie eine sehr alte Frau. "Sie war eigentlich gar nicht da", berichtet Hinum über ihre erste Begegnung mit der Patientin im August 2015. Und ihre Stimme, daran erinnert sich die Ärztin, ihre Stimme klang sehr dünn und schrill.
Viele Flüchtlinge spüren, dass von der Willkommenskultur wenig übrig geblieben ist
Die Seele der jungen Frau nämlich hatte fürchterlich gelitten, wie bei so vielen der Menschen, die Deutschland in den vergangenen Jahren erreicht haben. In einer repräsentativen Befragung von 639 geflüchteten Frauen in fünf Bundesländern gab aktuell fast die Hälfte an, in der Heimat oder auf der Flucht dem Tod nahe gewesen zu sein. Krieg, Terror, Folter hatten die Frauen vertrieben. Mindestens die Hälfte aller Flüchtlinge gilt als psychisch krank. Die meisten von ihnen leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit sich immer wieder aufdrängenden Erinnerungen an ihre Erlebnisse, mit Schlafstörungen, Wutausbrüchen. Mehr als jede zehnte der Frauen in der Studie hat überlegt, sich das Leben zu nehmen.
Und viele Flüchtlinge spüren derzeit, dass von der Willkommenskultur im Herbst 2015 wenig übrig geblieben ist. An Meldungen über ertrunkene Flüchtlinge haben sich die Menschen gewöhnt, es herrscht dumpfe Gleichgültigkeit. Besonders afghanische Flüchtlinge wissen, dass ihnen Schutz heute seltener gewährt wird; sie müssen damit rechnen, abgeschoben zu werden. "Die Stimmung hat sich verschärft", sagt die Münchner Psychologin und Psychotherapeutin Birgit Gass, die seit ein paar Monaten Informationsabende für Flüchtlingshelfer organisiert. Wie bei einem Seiltänzer, der plötzlich schwere Gewichte tragen muss, bringen die neuen Entwicklungen in Deutschland viele Geflüchtete völlig aus dem Gleichgewicht.
Aber nicht einmal jede zehnte Frau hat die Möglichkeit, mit einem Psychologen oder Therapeuten zu sprechen, ergab die Studie der Charité, nur ein Bruchteil der Geflüchteten erhält eine Behandlung. "Psychisch erkrankte Flüchtlinge werden in Deutschland nicht angemessen versorgt", sagt Meryam Schouler-Ocak, Leiterin des Referats Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, die an der Befragung beteiligt war.
"Viel ist es nicht, was ich tun kann"
Um das zu ändern, hat die Organisation Ärzte der Welt im Oktober 2016 in München damit begonnen, in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften psychiatrische Sprechstunden einzuführen. Zweimal pro Woche spricht Stephanie Hinum mit maximal vier Flüchtlingen pro Sitzung, eine halbe Stunde pro Patient muss sein, oft braucht die Ärztin mehr Zeit. "Viel ist es nicht, was ich tun kann", sagt die Psychiaterin, sie hat wache blaue Augen, sehr kurze blonde Haare, trägt einen grauen Wollpullover. Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wasser und ein Pappkarton mit Taschentüchern, darauf sind rote Herzen abgebildet.
In das Sprechzimmer kommt an diesem Abend ein unscheinbarer kleiner Mann mit pausbäckigem Gesicht, der zunächst vor allem freundlich lächelt, dann aber erzählt, dass er einst für den Fuhrpark des afghanischen Präsidenten arbeitete. Kurz vor seiner Flucht wollten ihn die Taliban dazu bringen, Bomben in Regierungsfahrzeugen zu platzieren. Eine mittelschwere Depression wird Hinum bei ihm diagnostizieren, ihn ein paar Wochen lang behandeln und dann mit ihren Kolleginnen versuchen, was äußerst schwierig ist: dem Flüchtling einen Weg in die deutsche Gesundheitsversorgung zu ebnen.
Der nämlich ist so verschlungen, dass sich die Patienten selbst verlaufen würden. Es geht um Kosten, vor allem, und es geht um Gutachten, Atteste, Anträge. In den ersten 15 Monaten in Deutschland dürfen Flüchtlinge ohnehin nur in akuten Notfällen medizinisch versorgt werden. Eine Psychotherapie müssen Psychologen und Psychiater gesondert beantragen. "Dafür sind insgesamt neun bürokratische Schritte nötig", sagt die Psychologin Birgit Gass. Daher seien die Sozialarbeiter in den Gemeinschaftsunterkünften oft verzweifelt; sie kennen so viele psychisch kranke Menschen, die keine Behandlung erhalten.