Übergewicht:Dicke leben länger

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Übergewicht ist ungesund, Ärzte prophezeien Dicken unermüdlich ein frühes Ableben. Mit Diätkampagnen sollen sie von ihrem Joch befreit werden. Doch mit dem Stand der Wissenschaft hat das nichts zu tun: Mollige Menschen leben sogar länger. Und sie vertragen mehr Stress.

Christina Berndt

Was ist bloß mit den Dicken los? Sie wollen einfach nicht früher sterben als die Dünnen. Dabei prophezeien Ärzte übergewichtigen Menschen unermüdlich eine schlechte Gesundheit und ein frühes Ableben. In Berlin erwägen Politiker sogar, Dicke mithilfe des künftigen Präventionsgesetzes zum Abnehmen zu verleiten.

Verminderte Kassenbeiträge nach erfolgreicher Diät könnten ein Anreiz sein, schlug der CSU-Bundestagsabgeordnete Johannes Singhammer vor. Doch auch wenn die Knie unter den Pfunden ächzen, sich die Herzkranzgefäße verengen und die Bauchspeicheldrüse im Kampf gegen Blutzucker aufgibt: Füllige Menschen leben im Schnitt sogar länger als die Schlanken, sofern sie nicht als krankhaft fettleibig einzustufen sind.

"Die klassische Sicht ist, dass Übergewicht krank ist und man es heilen muss", sagt Achim Peters von der Universität Lübeck. "Übergewicht ist aber nicht gleich Krankheit. Es ist sogar etwas Gutes." Der Hirnforscher Peters kämpft seit Jahren gegen die stigmatisierende Sicht auf zu viel Körperfett. Als eher schlaksiger Typ mit einem normalgewichtigen Body-Mass-Index (BMI) von 23 argumentiert Peters nicht aus Betroffenheit. Nun hat der gelernte Internist mit dem Stressforscher Bruce McEwen von der New Yorker Rockefeller University eine These entwickelt, die das lange Leben der Dicken endlich erklären soll, das in Fachkreisen als "Gewichtsparadoxon" bekannt geworden ist ( Physiology and Behavior, Bd. 106, S. 1, 2012). Demnach ist Dicksein eine gesunde Art der Stressbewältigung.

Grundlage dieser Deutung ist Peters' Theorie vom egoistischen Gehirn. Demnach verlangt das Denkorgan vom Körper ausreichend Energie - auch wenn das auf Kosten des übrigen Organismus geht. Tatsächlich verlieren in extremen Hungerzeiten die inneren Organe bis zu 40 Prozent ihres Gewichts, das Gehirn aber büßt gerade mal ein Prozent ein.

Zur Deckung des Energiebedarfs nutzt das Hirn das körpereigene Stresssystem: Hormone wie Cortisol helfen, Brennstoff aus den Körperspeichern für das Gehirn freizusetzen. Schon in normalen Zeiten greift das Gehirn 50 Prozent des gesamten Glucosebedarfs ab, unter Stress sogar 90 Prozent. Bei dicken Menschen aber funktioniert der "Selfish-Brain"-Theorie nach der Zugriff des Gehirns auf die Fettdepots nicht. Weil es nicht genügend Glucose erhält, verstärkt es seine Energieforderung immer weiter. Die Menschen müssen essen, um den Bedarf ihrer egoistischen Schaltzentrale zu decken. Aber auch von diesen Kalorien gelangt nur der geringere Teil zum Gehirn; mit dem Rest baut der Körper Fettdepots auf. Demnach können sich Dicke also gar nicht dagegen wehren, dick zu werden. Es ist ihre - langfristig förderliche - Reaktion auf Dauerstress.

Die Überlebenskraft der Dicken fiel erstmals vor gut zehn Jahren auf. Zunächst bemerkten im Jahr 1999 Nierenfachärzte um Edmund Lowrie von der University of California in San Francisco, dass ihre schlanken Dialyse-Patienten schneller dahinschieden als die übergewichtigen. Dann zeigte sich, dass auch Dicke mit Herzinfarkt länger leben, ebenso wie nach schweren Operationen, nach Sepsis, Schlaganfall oder Hirnblutung und Dicke mit Rheuma oder Krebs. Immer waren die Übergewichtigen im Vorteil - und zwar nicht nur, wenn sie ein paar Pfund mehr auf den Rippen hatten, sondern auch, wenn sie deutlich übergewichtig waren mit einem BMI von gut 30. Da wiegt man bei einer Größe von 1,70 Meter mehr als 85 Kilogramm.

Voraussetzung war, dass die Dicken nicht dazu neigten, all ihr Körperfett rund um die Taille anzusammeln. Die Apfelfigur ist anerkanntermaßen tatsächlich lebensbedrohend, weil das Fett die inneren Organe umfasst und schnell mobilisiert wird. Kritisch wird es dem Stand der Wissenschaft zufolge, sobald der Taillenumfang bei Männern 102 Zentimeter misst und bei Frauen 88 Zentimeter. Der Speck an Armen und Beinen oder um Hüfte und Po ist dagegen weniger eine Bedrohung als ein Schutz.

Die Befunde von den Intensivstationen haben sich auch im wahren Leben bestätigt: So zeigte sich im Jahr 2010 der schützende Einfluss eines höheren BMI bei 27.000 Dänen. Auch unter den 8000 Einwohnern der Insel Mauritius, die australische und skandinavische Wissenschaftler 15 Jahre lang verfolgten, lebten die Dicken am längsten ( International Journal of Epidemiology, Bd. 41, S. 484, 2012).

"Übergewicht ist eben nicht so gefährlich, wie man immer dachte", sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg, die das längere Leben der Dicken im Jahr 2009 für die deutsche Bevölkerung belegt hat. Auch hierzulande haben die Molligen mit einem BMI von etwa 27 (78 Kilogramm bei 1,70 Metern) eine längere Lebenserwartung als die Schlaksigen mit einem BMI von 20 (58 Kilogramm bei 1,70 Metern). Den Hang zu Diabetes und Herzproblemen müssen die Dicken Mühlhauser zufolge in Kauf nehmen, nicht aber ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. Und der Gesundheit abträglich wird es erst, wenn der BMI extreme Umfänge von mehr als 35 erreicht und man von schwerer Fettleibigkeit spricht. "Die höchste Lebenserwartung liegt bei einem BMI von 27", sagt sie. "Und je älter man wird, desto weniger bedeutend wird das Übergewicht als Risikofaktor."

Wie aber funktioniert der geheime Schutz des Übergewichts? "Eine Erklärung kann sein, dass Übergewichtige mehr Reserven haben", sagt Mühlhauser. "Eine andere, dass erhöhtes LDL-Cholesterin ein Schutzfaktor ist, weil es toxische Stoffwechselprodukte binden kann." Zudem werde mehr und mehr erkannt, welch positive Wirkungen das Fettgewebe auf das Immunsystem habe, sagt Mühlhauser. Eindeutige Erklärungen für das Gewichtsparadox aber fehlten bislang.

Diese Lücke wollen der Hirnforscher Peters und der Stressforscher McEwen schließen: Womöglich ist das Dicksein nicht nur eine Reaktion auf Dauerstress - nach dem Motto: Manche essen mehr, andere weniger, wenn sie Kummer haben. Womöglich hilft das Dicksein Stress zu bewältigen, und schützt deshalb entgegen allen ärztlichen Ratschlägen vor dem frühzeitigen Ableben. Denn einem langen Leben weitaus abträglicher als Arthrose in den Knien oder Zucker im Blut ist chronischer Stress.

In der Theorie lässt sich das wunderbar belegen: Schließlich steigt der Energieverbrauch des Gehirns, wenn Menschen unter Stress stehen. Manche Menschen, wie Person A, gewöhnen sich nicht an Druck. Wenn A unter Daueranspannung steht, dann ist das Cortisol im Blut ständig erhöht, um den gesteigerten Energiebedarf des Gehirns aus den Fettdepots zu decken. Wird Person A Schauspielerin, dann hat sie bei jeder Vorstellung Lampenfieber. Das viele Cortisol im Blut setzt zwar ihr Sterberisiko hoch, aber A bleibt dünn.

Andere Menschen, wie Person B, gewöhnen sich an Stress. Als Schauspieler sind sie spätestens nach der zehnten Aufführung gelassen, ihre Cortisolspiegel steigen kaum noch. Um den Energiebedarf des Gehirns zu decken, essen sie aber mehr - und werden dick. Wegen der niedrigen Cortisolspiegel ist ihr Todesrisiko dabei nicht erhöht. "Dicksein ist unter Stress also ein klarer Überlebensvorteil", sagt Peters. Solange man in einem Land lebt, in dem es genug Nahrung gibt, scheint Essen die gesündere Form der Stressbewältigung zu sein.

Inzwischen haben Peters und McEwen ihre Theorie auch praktisch untermauert ( Frontiers in Neuroenergetics, Bd. 4, S. 4, 2012). Sie luden 20 normalgewichtige und 20 übergewichtige Studenten (mit einem BMI über 30) ein und setzten sie unter Druck: Die jungen Leute mussten ein Vorstellungsgespräch hinter sich bringen und nebenher auch noch Rechenaufgaben lösen. Dabei fanden sich bei den Schlanken stark erhöhte Cortisolwerte im Blut. Die Dicken regte der Stresstest dagegen nicht messbar auf, die Cortisolwerte blieben niedriger: "Von Stress und Angst war da kaum eine Spur", sagt Achim Peters. "Durch Diät vergrößert man das Problem nur, da das Hungern ein zusätzlicher Stressfaktor ist, der das Cortisol erhöht", sagt er. Dem pflichtet auch der Stoffwechselexperte Peter Nawroth von der Universität Heidelberg bei: "Es gibt keine Untersuchung, die gezeigt hat, dass Abnehmen hilft", sagt er. Derzeit herrsche eine "zum Teil unnötige Übergewichtsphobie".

Die einzige Möglichkeit zum Abnehmen sei Peters zufolge, seinen Stresslevel zu senken. Zum Stress trägt aber auch die negative Sicht auf Dicke bei. Wie groß die ist, hat soeben eine Studie der Universität Göttingen untermauert, für die TNS Infratest 1001 Menschen befragt hat. Demnach blickt fast jeder vierte Deutsche auf Menschen mit Übergewicht herab. Frauen stigmatisieren die Dicken stärker als Männer, Ältere mehr als Jüngere und Westdeutsche erheblich mehr als Ostdeutsche. 14 Prozent der Bevölkerung würden, wenn sie Personalentscheidungen zu treffen hätten, keine Übergewichtigen einstellen, sagt Studienleiter Thomas Ellrott, vom Institut für Ernährungspsychologie: "Die Stigmatisierung hilft übergewichtigen Menschen ohnehin nicht; sie verschlimmert das Problem nur."

Auch Achim Peters tritt gegen die negative Sicht auf zu viele Pfunde ein. "Auf die Frage nach den Ursachen von Adipositas erhält man meist die Antwort: Willensschwäche, Maßlosigkeit, ungezügelte Lust und Faulheit", sagt er. Dabei zeigten neuere Daten, dass Jugendliche und Erwachsene mit hohem Körpergewicht deutlich mehr kognitive Kontrolle über ihr Essverhalten ausüben als alle anderen Menschen.

Dünnsein ist demnach eine Veranlagung, aber keine Leistung. So ist das Zunehmen für Dünne genauso schwierig wie das Abnehmen für Dicke. Das hat schon das Vermont-State-Prison-Experiment aus dem Jahr 1967 eindrucksvoll gezeigt: Den Gefangenen des US-Staatsgefängnisses wurde damals eine Haftverkürzung versprochen, wenn sie ein Viertel ihres Körpergewichts zulegten. Doch von den 28 Freiwilligen erreichten nur wenige das Ziel, obwohl sie aßen und aßen.

Wer schlecht schläft, Geldsorgen hat oder ständig unter Druck steht, der sollte sich demnach nicht auch noch von ein paar Kilo zu viel ärgern lassen und sich mangelnde Disziplin vorwerfen. Den dünnen Gestressten jedenfalls scheint es erheblich schlechter zu ergehen. "Ich frage mich selbst immer wieder: Bin ich dünn und entspannt oder dünn und unter Last", erzählt Peters. "Falls Letzteres zutrifft, bin ich am schlechtesten von allen dran."

© SZ vom 03.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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