Was ist bloß mit den Dicken los? Sie wollen einfach nicht früher sterben als die Dünnen. Dabei prophezeien Ärzte übergewichtigen Menschen unermüdlich eine schlechte Gesundheit und ein frühes Ableben. In Berlin erwägen Politiker sogar, Dicke mithilfe des künftigen Präventionsgesetzes zum Abnehmen zu verleiten.
Verminderte Kassenbeiträge nach erfolgreicher Diät könnten ein Anreiz sein, schlug der CSU-Bundestagsabgeordnete Johannes Singhammer vor. Doch auch wenn die Knie unter den Pfunden ächzen, sich die Herzkranzgefäße verengen und die Bauchspeicheldrüse im Kampf gegen Blutzucker aufgibt: Füllige Menschen leben im Schnitt sogar länger als die Schlanken, sofern sie nicht als krankhaft fettleibig einzustufen sind.
"Die klassische Sicht ist, dass Übergewicht krank ist und man es heilen muss", sagt Achim Peters von der Universität Lübeck. "Übergewicht ist aber nicht gleich Krankheit. Es ist sogar etwas Gutes." Der Hirnforscher Peters kämpft seit Jahren gegen die stigmatisierende Sicht auf zu viel Körperfett. Als eher schlaksiger Typ mit einem normalgewichtigen Body-Mass-Index (BMI) von 23 argumentiert Peters nicht aus Betroffenheit. Nun hat der gelernte Internist mit dem Stressforscher Bruce McEwen von der New Yorker Rockefeller University eine These entwickelt, die das lange Leben der Dicken endlich erklären soll, das in Fachkreisen als "Gewichtsparadoxon" bekannt geworden ist (Physiology and Behavior, Bd. 106, S. 1, 2012). Demnach ist Dicksein eine gesunde Art der Stressbewältigung.
Grundlage dieser Deutung ist Peters' Theorie vom egoistischen Gehirn. Demnach verlangt das Denkorgan vom Körper ausreichend Energie - auch wenn das auf Kosten des übrigen Organismus geht. Tatsächlich verlieren in extremen Hungerzeiten die inneren Organe bis zu 40 Prozent ihres Gewichts, das Gehirn aber büßt gerade mal ein Prozent ein.
Zur Deckung des Energiebedarfs nutzt das Hirn das körpereigene Stresssystem: Hormone wie Cortisol helfen, Brennstoff aus den Körperspeichern für das Gehirn freizusetzen. Schon in normalen Zeiten greift das Gehirn 50 Prozent des gesamten Glucosebedarfs ab, unter Stress sogar 90 Prozent. Bei dicken Menschen aber funktioniert der "Selfish-Brain"-Theorie nach der Zugriff des Gehirns auf die Fettdepots nicht. Weil es nicht genügend Glucose erhält, verstärkt es seine Energieforderung immer weiter. Die Menschen müssen essen, um den Bedarf ihrer egoistischen Schaltzentrale zu decken. Aber auch von diesen Kalorien gelangt nur der geringere Teil zum Gehirn; mit dem Rest baut der Körper Fettdepots auf. Demnach können sich Dicke also gar nicht dagegen wehren, dick zu werden. Es ist ihre - langfristig förderliche - Reaktion auf Dauerstress.