Medikamenten-Entwicklung:Das ganze Spektrum der Nebenwirkungen lässt sich nur während der breiten Anwendung erkennen

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Auch der Antikörper Natalizumab, ein hochpotentes Mittel gegen die Multiple Sklerose, war 2004 in den USA nach einer verkürzten Studiendauer zugelassen worden. Er galt als zu vielversprechend, um Patienten länger warten zu lassen. Doch schon drei Monate später wurde die Vermarktung ausgesetzt. Einige Patienten hatten durch die Therapie eine PML entwickelt, eine oft tödlich verlaufende Erkrankung des Zentralnervensystems.

Dennoch hilft der Antikörper heute zahlreichen Patienten mit MS. "Wir haben viel darüber gelernt, wie wir mit diesem Medikament umgehen können", sagte Cichutek. So würden Patienten damit in der Regel nicht länger als zwei Jahre behandelt; engmaschige Untersuchungen durch einen Neurologen sind zudem vorgeschrieben. Patienten können somit trotz der Risiken von Natalizumab profitieren.

Die Experten

Prof. Dr. Klaus Cichutek Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, des Bundesinstituts für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel Prof. Dr. Dr. Gerd Geißlinger Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum der Universität Frankfurt am Main, Direktor des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie sowie Gesundheitsforschungsbeauftragter der Fraunhofer-Gesellschaft Prof. Dr. Kai Daniel Grandt Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft sowie Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am Klinikum Saarbrücken Prof. Dr. Gerd Kullak-Ublick Ordinarius der Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsspital Zürich Prof. Dr. Jochen Maas Geschäftsführer Forschung und Entwicklung bei der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH Moderation: Prof. Dr. Alexander Gerbes, stellvertretender Direktor der Medizinischen Klinik II und Leiter des Leberzentrums am Klinikum der Universität München

Für jedes Arzneimittel gilt: Das ganze Spektrum seiner Nebenwirkungen lässt sich letztlich nur während der breiten Anwendung erkennen - von Ärzten und Patienten. Es nützt der Allgemeinheit aber nur etwas, wenn die Behörden auch von den Nebenwirkungen erfahren, doch Ärzte melden diese viel zu selten. "Immer wenn es Diskussionen über neue Probleme mit einem Arzneimittel gibt, nehmen die Meldungen zu, um dann aber wieder abzunehmen", beklagte Cichutek. Kullak-Ublick machte auf einen neuen möglichen Weg aufmerksam, Nebenwirkungen zu entdecken: die sozialen Medien. Patienten sprechen zwar mitunter nicht einmal mit ihrem Arzt über Nebenwirkungen, aber auf Twitter tauschten sie sich rege darüber aus, sagte der Pharmakologe. Die Auswertung von Twitter & Co. könnte Behörden somit helfen, andere Patienten vor unerwünschten Arzneiwirkungen zu schützen.

Manche Arzneimittelrisiken entstehen nicht durch Versehen, sondern durch betrügerische Absicht

Probleme mit Arzneimitteln ergeben sich allerdings häufig auch dadurch, dass Patienten mehrere Medikamente einnehmen, die einander gegenseitig beeinflussen. "Verordnungsbedingte Fehler sind das größte Risiko für Patienten", sagte Grandt. Bei jedem dritten Patienten, der im Krankenhaus aufgenommen wird, findet sich eine unerwünschte Arzneimittelreaktion. "71 Prozent davon wären vermeidbar gewesen", so Grandt. Fast jeder dritte Patient nimmt sogar Medikamente, die ausdrücklich nicht kombiniert werden dürfen. So habe ein 35-Jähriger wegen einer Bronchitis von seinem Hausarzt ein Antibiotikum bekommen; er nahm aber auch ein Antidepressivum ein, das ihm ein Neurologe verschrieben hatte. Am nächsten Morgen war der junge Mann tot.

Grandt räumte ein, dass die Verschreibung von Medikamenten komplex sei. Jeder vierte Patient nimmt mehr als vier Arzneimittel ein, oft werden diese nicht von einem Arzt, sondern von drei Ärzten verschrieben. Umso wichtiger sei ein digitales Arzneimittelmanagement, so Grandt, das eine Warnmeldung sendet, wenn ein Patient Mittel nehmen soll, die sich nicht vertragen. In der Schweiz gebe es ein solches System bereits, sagte Gerd Kullak-Ublick. Die "beratende Medikationsakte EPha.ch" weise den Arzt sogar auf risikoärmere Alternativen hin.

Doch manche Arzneimittelrisiken entstehen nicht durch Versehen, sondern schlicht durch betrügerische Absicht, etwa durch Fälschungen. Manchen Patienten oder Apothekern fällt auf, dass Tabletten plötzlich orange statt weiß sind, andere Fälschungen bleiben hingegen unbemerkt. Seit Anfang 2019 soll das Securpharm-System den Fälschungsschutz verbessern. Packungen müssen seither so konstruiert sein, dass erkennbar ist, wenn sie geöffnet wurden. Zudem hat jede Arzneimittelpackung in der EU eine individuelle Seriennummer. Klaus Cichutek begrüßte das System grundsätzlich. Doch eine genaue Rückverfolgung der kompletten Lieferwege durch die EU vom Hersteller zum Behandelten sei damit ohne Weiteres nicht möglich, beklagte er. "Hier könnte ich mir Verbesserungen vorstellen."

Schwierig zu erkennen und verfolgen ist es auch, wenn Hersteller ihre Daten schönen, um Medikamente zur Zulassung zu bringen, obwohl diese einen geringen Nutzen oder starke Nebenwirkungen haben. Das aber kommt immer wieder vor - auch wenn Aufsichtsbehörden inzwischen strengere Regeln erlassen haben. Das Schmerzmittel Vioxx etwa, bis zu seiner Marktrücknahme im Jahr 2004 ein Verkaufsschlager, hätte Jahre zuvor aus dem Verkehr gezogen werden müssen, wenn der Hersteller MSD alle Studiendaten frühzeitig offengelegt hätte. So zeigte sich erst spät, dass das Mittel das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle drastisch erhöht.

Jochen Maas von Sanofi-Aventis verteidigte die Pharmaindustrie. Es liege nicht in ihrem Interesse, kurzfristig Gewinne zu machen, sondern langfristig Vertrauen zu schaffen, sagte er. Die Industrie folge einer Richtlinie zur Good Research Practice, die vorschreibt, was für eine gute Forschungspraxis beachtet werden muss. Auch etwa 70 Prozent der Pharma-Studien aus Universitäten könnten unter standardisierten Bedingungen nicht wiederholt werden, betonte Maas. "Da werden Ausreißer ignoriert, es wird selektiv publiziert, Ergebnisse werden mit statistischen Methoden geschönt." Hier seien die Behandlungsleitlinien ein wichtiges Korrektiv, sagte Alexander Gerbes von der Universität München, der das Gespräch moderierte. Deren Autoren könnten mit der kritischen Prüfung veröffentlichter Daten zum sachgerechten Einsatz von Arzneimitteln beitragen.

Wer die sauberste Weste hat? Diese Frage verliert gerade an Bedeutung, denn die Trennung zwischen Industrie, Akademia und Start-ups verschwimmt. Pharmaunternehmen greifen zunehmend auf externe Innovationen zurück, "Open Innovation" nennen sie das. Neuerdings mischen dabei auch Tech-Konzerne wie Facebook und Google mit (Text unten). Das berge gewiss neue Gefahren, sagte Maas. Dennoch war die einhellige Meinung: Die großen Probleme der Medizin lassen sich nur mit gemeinsamer Anstrengung lösen. "Früher war Forschung oft harte Arbeit plus Zufall", sagte Gerd Geißlinger vom Universitätsklinikum Frankfurt, "heute ist es vor allem harte Arbeit kombiniert mit den neuesten Technologien. Ohne Kooperationen geht das kaum noch."

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