Erstmals ist es Immunologen gelungen, die langfristige Beschädigung des körpereigenen Immunsystems durch eine Masernerkrankung nachzuweisen - und auch zu erklären. Wie ein britisches und ein amerikanisches Forscherteam jetzt in Science und Science Immunology berichten, vernichtet das Masernvirus sowohl schützende Biomoleküle, als auch die entscheidenden Immunzellen der körpereigenen Krankheitsabwehr. Folge dieser Zerstörung ist die schon lange bei Masernpatienten beobachtete "Immunamnesie", die mit einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen und auch einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht.
Das Masernvirus greift demnach massiv in ein System ein, das nomalerweise stetig dazu lernt. In den ersten Lebensjahren haben es unbekannte Erreger zwar noch leicht, das System zu überwinden. Doch nicht nur das Gehirn, sondern auch Immunzellen haben ein Gedächntnis. Ist der Feind erst einmal bekannt, kann das die körpereigene Abwehr auf ein Repertoire an krankheitsspezifischen Abwehrmolekülen, sogenannte Antikörper, zurückgreifen. Dieses Gedächtnis bietet meist lebenslangen Schutz, es verhindert zum Beispiel, dass Kinder nach einer durchaus gefährlichen Infektion mit dem Mumpserreger ein zweites Mal erkranken.
Der Schaden am Immunsystem überdauert viele Jahre
Es sei denn, das Kind bekommt die Masern. Infektiologen wissen bereits, dass der Masernerreger das Gedächtnis des Immunsystems für andere Krankheiten massiv beschädigen kann. Der Körper bildet im Zuge der Infektions zwar eine Erinnerung an den Masernerreger aus. Gleichzeitig löscht das Virus andere, bereits vorhandene Krankheitserinnerungen im Körper und führt nach der Maserninfektion zu einer erhöhten Anfälligkeit für andere Erreger. Gut die Hälfte aller infektionsbedingten Todesfälle bei ungeimpften Kindern stehen im Zusammenhang mit diesen Folgen einer durchgemachten Masernerkrankung.
Ursache der "Amnesie", so vermuten es Forscher, ist der Befall weißer Blutzellen durch das Masernvirus. Was dabei genau geschieht und wie lange der Körper geschwächt wird, war bislang jedoch unklar. Studien deuten darauf hin, dass die Beeinträchtigungen des Immunsystems bei Kindern nach einer Masernerkrankung bis zu fünf Jahre anhalten kann. Die betreffenden Mädchen und Jungen zeigen unter anderem eine erhöhte Anfälligkeit für Ohren-, Lungen- und Gehirnentzündungen und können auch als Kinderkrankheit verniedlichte Infektionen wie Mumps ein zweites Mal bekommen.
Die Forschergruppen um Velislava Petrova vom Wellcome Sanger Institute im britischen Hinxton und Michael Mina von der Harvard Medical School in Boston, USA, haben für die jetzt veröffentlichten Arbeiten auf Blutproben von insgesamt fast 80 ungeimpften Kindern aus den Niederlanden zurückgegriffen und sie mit Proben geimpfter beziehungsweise nicht erkrankter Kinder verglichen. Die ungeimpften Probanden stammen aus einer Gemeinschaft orthodoxer Protestanten, die Immunisierungen konsequent ablehnen. Innerhalb dieser Gruppe kommt es deshalb regelhaft zu Masernausbrüchen.
Für die Forschung sind solche Gemeinschaften ein Glück, weil sich die Folgen von Masernerkrankungen hier gut verfolgen lassen. Mina und Kollegen nutzten ein neu entwickeltes Testsystem für schützende Antikörper, um den vorhandenen Abwehrstatus vor und nach einer Maserninfektion beschreiben zu können. Petrova und ihr Team fokussierten in ihrer Arbeit auf das Schicksal der Gedächtniszellen im Immunsystem. Demnach verschwinden im Zuge einer Maserninfektion durchschnittlich 20 Prozent, in Einzelfällen sogar mehr als 70 Prozent der vormals gebildeten Antikörper. Zudem verschwinden die vom Masernvirus zerstörten Gedächtniszellen des Immunsystems nicht nur vorübergehend aus dem Körper.
Fachleute raten abermals dringend zur Impfung
Zwar erholt sich der Bestand an diesen Zellen nach der Erkrankung ganz allgemein. "Ihre Zusammensetzung ist nach der Infektion jedoch verändert", sagt Johannes Trück vom Universitäts-Kinderspital Zürich. "Teile des vormals durch Impfungen oder Erkrankungen gestärkten Immungedächtnisses müssen neu aufgebaut werden, das kann Monate oder Jahre dauern". Im Alter könne das Immunsystem eine Masernerkrankung sogar noch schlechter kompensieren. Der Kinderinfektiologe weist zugleich darauf hin, dass eine Masernimpfung keine Beeinträchtigung des Immunsystems nach sich zieht. "Im Gegenteil, Mina und Kollegen zeigen in ihrer Arbeit, dass im Gegensatz zu Kindern mit Maserninfektion das Immunsystem von kleinen Kindern durch eine Masernimpfung gestärkt wird."
Fachleute sind sich deshalb völlig einig, dass eine Masernimpfung alternativlos ist. "Die Arbeiten unterstreichen eindrücklich die Notwendigkeit, konsequent gegen Masern zu impfen", sagt der Virologe Klaus Überla vom Universitätsklinikum Erlangen. Das gilt nicht nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Das Robert-Koch-Institut hatte im Mai abermals die unzureichenden Impfquoten von Kindern zum Zeitpunkt der Einschulung kritisiert, gleichzeitig jedoch auf die oft noch größeren Impflücken unter den nach 1970 geborenen Bundesbürgern hingewiesen.