Schwer zu glauben, dass es sich in beiden Fällen um die gleiche Substanz handeln soll: Da ist dieser süffige Rote, der den Abend bei Freunden veredelt und nach kühnen Gesprächen übermütig enden lässt - und nebenbei bleiben die Adern elastisch und das Herz frisch. Und dann gibt es einen ähnlichen Tropfen aus der gleichen Region, der als Betäubungsmittel herhalten muss und Leberschäden, Krebs und kognitiven Verfall mit sich bringt. Ja, was denn nun - kulturell geadeltes Lebenselixier oder Weg in Siechtum und Verderben? Kaum ein Genussmittel hat einen so widersprüchlichen Ruf wie Alkohol, wobei strenge Kritiker bereits das Etikett "Genuss" ablehnen würden und lieber von Zell- und Nervengift sprechen.
Gerade haben Wissenschaftler der Weltgesundheitsorganisation erneut auf gesundheitliche Schäden durch Alkohol hingewiesen. Im Fachmagazin Lancet Oncology zeigen die Krebsexperten der International Agency for Research on Cancer (IARC), dass im Jahr 2020 mehr als 740 000 neu aufgetretene Krebsfälle auf Alkohol zurückzuführen sind. Die meisten Tumore gingen zwar auf starken Alkoholkonsum und riskantes Trinkverhalten wie "Komasaufen" zurück. Überraschend für die Forscher war jedoch, dass jede siebte dieser Krebsdiagnosen (und damit mehr als 100 000 Fälle) auf Alkohol in geringer bis mäßiger Dosis zurückzuführen war, worunter ein bis maximal zwei Drinks am Tag verstanden werden.
Mehr als drei Viertel der alkoholbedingten Krebsfälle betreffen Männer
"Trinken geht immer mit Risiko einher", sagt Jürgen Rehm von der Universität Toronto, der an der Studie beteiligt war. "Was Krebs durch Alkohol betrifft, ist jeder Konsumlevel mit einem gewissen Risiko verknüpft. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Brustkrebs bereits mit einem Glas Wein täglich um sechs Prozent." Die Forscher hatten berechnet, wie häufig welcher Alkoholkonsum nach zehn Jahren zu Krebs führt und diese Erkenntnisse mit dem Trinkverhalten in den jeweiligen Ländern in Verbindung gesetzt.
Mehr als drei Viertel aller alkoholbedingten Krebsfälle betreffen demnach Männer. Das Risiko durch Alkohol steigt allerdings nicht für alle Tumore gleichmäßig an, sondern besonders für Krebs der Mundhöhle, der Speiseröhre, im Rachen, Kehlkopf, aber auch für Leber-, Enddarm- und Brustkrebs. Alkohol - vielmehr Ethanol und das krebserregende Abbauprodukt Acetaldehyd - setzt dem Körper vielfältig zu. Entweder werden DNA, Proteine und Lipide direkt geschädigt, sodass Zellen entarten können. Durch Alkohol bedingter oxidativer Stress sowie veränderte Hormonspiegel begünstigen ebenfalls die Krebsentstehung. Ethanol fungiert zudem als Lösungsmittel für giftige Substanzen wie die in Tabak enthaltenen Chemikalien und kann so das Krebsrisiko erhöhen. "Alkohol trägt erheblich zu Krebs bei", sagt Isabelle Soerjomataram vom IARC. "Das wird aber oft vernachlässigt. Wollen wir die Last alkoholbedingter Tumore verringern, müssen wir das Bewusstsein für diesen Zusammenhang stärken."
Bis zu 45 Prozent der Bevölkerung in Ostasien kann aufgrund einer Mutation Alkohol schlecht abbauen, weil das zuständige Enzym bei ihnen weniger aktiv ist. Wer davon betroffen ist, hat zudem ein höheres Risiko für Tumore in Mund, Rachen und Speiseröhre. Womöglich ist dies ein Grund, warum es den Menschen dort am meisten nutzen würde, auf Alkohol zu verzichten. Immerhin neun Prozent der Krebsfälle könnten unter Männern in Ostasien vermieden werden, wenn niemand zu Bier, Wein, Schnaps und Co. greifen würde, zeigt die IARC-Analyse. In Osteuropa liegt diese Quote bei acht Prozent.
Manche Studien erwecken den Eindruck, Wein müsse auf Rezept verschrieben werden
Während in Tausenden Studien belegt ist, dass Alkohol dem Körper schadet, gibt es ähnlich viele Studien, nach denen sich der Eindruck aufdrängt, Alkohol müsse auf Rezept verschrieben werden. Demnach winkt die Aussicht auf weiche Arterien, ein kräftiges Herz, weniger Infarkte und Schlaganfälle, wenn mäßig aber regelmäßig Alkohol konsumiert wird. Stellvertretend sei eine jüngst erschienene Studie in den Mayo Clinic Proceedings genannt, in der jenen eine höhere Lebenserwartung prophezeit wird, die Alkohol in moderater Form zusprechen. An mehr als 310 000 Probanden wurde gezeigt, dass Alkohol erst ungesund ist, wenn große Mengen getrunken werden - oder gar nicht.
Hier zeigt sich das Dilemma vieler Studien zu Ernährung und Konsumverhalten: Umfassend lassen sich alle Lebensfacetten kaum berücksichtigen. Alkohol ist ein Zellgift - doch wer sich regelmäßig bewegt, abwechslungsreich ernährt, zufrieden mit Job, Freunden und Familie ist, der kann Einschläge besser aushalten und kompensieren. Zelluläre Reparaturvorgänge laufen dann effizienter ab, die Regeneration erfolgt schneller, der Organismus ist wehrhafter. Hinzu kommen Entspannung und Lebensfreude - und dann ist Alkohol eher Genuss als Gift.
Entsprechende Lobesarien auf Bier und Wein sollten trotzdem nüchtern eingeordnet werden. Vor Jahren zeigten Studien, dass Frauen, die regelmäßig mäßig trinken, schneller schwanger werden als Abstinenzlerinnen. Das liegt aber nicht an einer Fruchtbarkeitsdroge im Alkohol, die erst noch erforscht werden muss, sondern an dessen Rolle als emotionales Gleitmittel zwischen den Geschlechtern. Frauen, die ab und zu etwas trinken gehen, finden nun mal eher die Gesellschaft von Männern - und wenn beide nicht mehr nüchtern sind, kommt eins zum anderen.