Oxford-Simulation:"Die Corona-App fängt an zu wirken, sobald 15 Prozent mitmachen"

Corona-Warn-App

Am Dienstag startet die Corona-Warn-App in Deutschland - mehr als zwei Monate später als ursprünglich angekündigt.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Lucie Abeler-Dörner hat in Oxford simuliert, wie Tracing-Apps gegen das Coronavirus helfen können. Die Studie wird oft zitiert - allerdings verkürzt, sagt die Forscherin und erklärt, wie die deutsche App ein Erfolg werden kann.

Interview von Simon Hurtz, Berlin

Seit dem frühen Dienstagmorgen steht die Corona-App in Deutschland zum Download bereit (hier finden Sie die App für Android und hier für iOS). Ein Satz prägt seit Monaten die Berichterstattung: "Unsere Modelle zeigen, dass wir die Epidemie stoppen können, wenn etwa 60 Prozent der Bevölkerung die App nutzen." Er stammt von Wissenschaftlern der Universität Oxford, die simuliert haben, unter welchen Bedingungen digitales Contact-Tracing helfen kann, die Pandemie zu stoppen. Auch in der SZ stand die Zahl. Das Zitat geht aber weiter: "... und selbst bei einem geringeren Anteil gehen wir davon aus, dass die Zahl der Infektionen und Todesfälle sinkt." Eine der beteiligten Forscherinnen ist Lucie Abeler-Dörner. Im Interview erklärt sie, warum die App bereits mit weniger Nutzern wirken kann und ob die lange Verzögerung den Erfolg gefährdet.

Lucie Abeler-Dörner

Lucie Abeler-Dörner ist Scientific Manager am Nuffield Department of Medicineam der Universität Oxford und beschäftigt sich unter anderem mit der computergestützen Analyse immunologischer und virologischer Datensätze.

(Foto: Oxford)

SZ: Sie wohnen in Großbritannien, wo ebenfalls eine Tracing-App getestet wird. Die offizielle Version soll bald folgen. Werden Sie die App nutzen?

Lucie Abeler-Dörner: Auf jeden Fall. Ich habe aus Neugierde sogar schon den Prototyp installiert, der gerade auf der Isle of Wight getestet wird und werde die richtige App herunterladen, sobald sie bei uns in Oxford verfügbar ist.

Seit Monaten berichten deutsche und internationale Medien, dass etwa 60 Prozent der Bevölkerung eine Tracing-App verwenden müssten, um die Pandemie wirksam zu bekämpfen. Die wichtigste Quelle dafür ist Ihre Simulation aus dem April. Lassen Ihre Berechnungen diesen Rückschluss zu?

Als wir die erste Version der Tracing-App simuliert haben, war Großbritannien noch auf "Kurs Herdenimmunität". In unserem Modell war die App die einzige Maßnahme, um das Virus zu bekämpfen. In diesem Szenario braucht man tatsächlich einen sehr hohen Anteil an App-Nutzern, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Jetzt ist die Situation in Europa eine andere. Der Lockdown hat die Fallzahlen stark reduziert, wir halten Abstand soweit irgend möglich, es gibt traditionelles Contact-Tracing. In den meisten Ländern ist die App ein Teil eines integrierten Programms zur Bekämpfung des Virus. Die App muss nicht mehr die ganze Arbeit allein machen und kann auch bei geringer Nutzung dazu beitragen, (Anm. d. Red.: die Reproduktionszahl) R unter 1,0 und damit die Epidemie unter Kontrolle zu halten.

Wie viele Menschen müssen die App mindestens verwenden, damit sie einen spürbaren Nutzen hat?

Am besten funktioniert die App tatsächlich, wenn viele Leute sie nutzen. Unsere Simulationen zeigen jedoch, dass die App anfängt zu wirken, sobald 15 Prozent der Bevölkerung mitmachen. Dann können Infektionsketten unterbrochen und Ansteckungen verhindert werden. In unserem Modell verhindern jeweils ein bis zwei Menschen, die die App nutzen, eine Neuansteckung. Dabei nehmen wir an, dass die App-Nutzung zufällig verteilt ist. Tatsächlich werden vermutlich einige Gruppen die App stärker nutzen als andere, sodass die App in diesen Gruppen einen deutlich größeren Effekt hat als unser Modell vorhersagt. Das traditionelle Contact-Tracing kann sich dann stärker auf Gruppen konzentrieren, in denen die App weniger verbreitet ist. Wie beim Klimaschutz gilt: "Denke global, handle lokal." Wenn Leute ihre Familie, Freunde und Arbeitskollegen von der App überzeugen, kann bereits eine kleine Gruppe einen wirksamen Schutz für alle Mitglieder aufbauen, auch wenn nicht alle ein Smartphone haben.

In Deutschland startet die App mehr als zwei Monate später als geplant. Gefährdet die Verzögerung den Erfolg?

Wäre die perfekte App vor zwei Monaten einsatzbereit gewesen, hätte sie sicher dazu beigetragen, Ansteckungen zu verhindern. In Großbritannien hat sich allerdings gezeigt, dass es nicht trivial ist, eine App zu entwickeln, die nahtlos mit anderen Teilen des Gesundheitssystems wie dem Testprogramm und dem traditionellen Contact-Tracing zusammenarbeitet. Die App kam zu spät für die erste Welle. Jetzt ist es wichtig, eine App zu bauen, die voll funktionstüchtig und einfach zu bedienen ist, damit wir eine zweite Welle verhindern.

Die öffentliche Wahrnehmung der Corona-App hat sich stark verändert: Aus dem einstigen Wundermittel wurde "eines von vielen Werkzeugen". Welcher Einschätzung neigen Sie zu?

Wenn wir alle im Februar die App auf unseren Handys gehabt hätten, hätte sie die Wunderwaffe sein können, die einen Lockdown verhindert. Aber damals hatten nur die Experten eine Ahnung, was auf uns zukommen könnte, und die App gab es nicht. Mittlerweile sind wir in der glücklichen Lage, dass die App kein Wundermittel mehr sein muss, um dazu beizutragen, die Epidemie in Schach zu halten, bis es einen Impfstoff gibt.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Was muss in den kommenden Wochen passieren, damit die Tracing-App zu einem wirksamen Mittel gegen die Pandemie wird?

Die Menschen müssen sich auf diese neue Technologie einlassen und sie als Möglichkeit sehen, ihre Familie und Freunde zu schützen. Wer ein Smartphone besitzt und die App nutzt, schützt alle in seiner Umgebung. Also auch Menschen, die kein Smartphone haben. Wir müssen die App als Chance sehen, die Bekämpfung der Epidemie in die eigene Hand zu nehmen. Je mehr Leute mitmachen, desto wahrscheinlicher ist es, dass keine zweite Welle kommt.

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