Inklusion an Schulen:Zurück zur Vernunft

Rollstuhlbasketball-Profis besuchen Münchner Grundschüler, 2016

Die Neuausrichtung der Inklusion in NRW ist sinnvoll, findet Lehrer Michael Felten.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Rot-Grün hat NRW vor fünf Jahren eine Radikalvariante der Inklusion verordnet, die keinem Kind gerecht wird. Eine Kehrtwende ist nötig.

Gastbeitrag von Michael Felten

Warum muss die schulische Inklusion in Nordrhein-Westfalen eigentlich neu ausgerichtet werden - und was ist davon zu halten? Erinnern wir uns kurz: Vor gut fünf Jahren hatte die Schulministerin der rot-grünen Koalition, Sylvia Löhrmann, alles darangesetzt, im Land zwischen Rhein und Ruhr eine Radikalvariante von Inklusion durchzusetzen. Quasi von heute auf morgen wurde 2013 das Gemeinsame Lernen besonders behinderter wie besonders begabter Kinder zum Regelfall erklärt. Die überhastete Reform hatte weder ein Konzept noch Standards, sie war unterfinanziert, brachte den Schulen also kein zusätzliches Personal, und sie wurde gegen den Rat fast aller Betroffenen und Experten verordnet.

Über den Autor

Michael Felten, 66, hat mehr als 30 Jahre lang Mathematik und Kunst im Gymnasium unterrichtet. Er ist Dozent in der Lehrerausbildung und Autor des Buchs "Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert".

Schon über Jahrzehnte hatte man in Modellversuchen gute Erfahrungen mit der Integration Behinderter gemacht - sofern diese durchgängig von Sonderpädagogen mitbetreut wurden. Was in den privilegierten Prototypen funktionierte, führte im billigen Serienmodell Inklusionsschule binnen Kurzem zur Katastrophe. Bestens funktionierende Förderschulen ließ man auslaufen und schickte die Förderlehrer fortan stundenweise an verschiedene Regelschulen. Diese mussten behinderte Schüler auch dann aufnehmen, wenn Ausstattung und Expertise noch gar nicht stimmten. Dadurch verloren Förderschüler die für sie immens wichtigen kontinuierlichen Beziehungen zu fachlich geschultem Lehrpersonal, Regelschülern entging zunehmend effektiver Unterricht. Es kam zur "wohlwollenden Vernachlässigung aller", wie es der Berliner Rehabilitationswissenschaftler Bernd Ahrbeck ausgedrückt hat.

Ob einfacher Lehrer oder Schulamtsdirektor: Wer es wagte, die neue Heilslehre infrage zu stellen, bekam einen Maulkorb verpasst. Nicht wenige Lehrkräfte quittierten den Dienst vorzeitig, also auf eigene Kosten, weil sie es nicht mehr ertragen oder verantworten mochten, keinem Kind mehr gerecht werden zu können, weder dem lernschwachen noch dem leistungsstarken. Studenten wiederum ließen sich auf ein Lehramtsstudium erst gar nicht mehr ein, weil offensichtlich war, welche prinzipielle Überforderung sie in der inklusiven Schule erwartete. Und Eltern sahen sich zu einer Landtagspetition, gar zu einem landesweiten Bündnis "Rettet die Inklusion!" gezwungen, um ihre Erziehungsrechte zu wahren.

Nun hat die seit Jahresfrist amtierende Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) eine "Neuausrichtung der schulischen Inklusion" durchs NRW-Kabinett gebracht - und sich damit postwendend den Vorwurf einer Kehrtwende in der Inklusionspolitik, eines Gegenschlags gar, eingehandelt. Dabei zeigt ein nüchterner Blick: Die Neuausrichtung erdet pädagogische Visionen, schwenkt um in Richtung Vernunft - zum Wohl aller Schüler. Gemeinsames Lernen ist eben nicht für jedes Kind über die ganze Schulzeit hinweg die entwicklungsförderlichste Lösung.

Deshalb rehabilitiert die Landesregierung die Förderschulen mit ihrer hohen Schutz- und Unterstützungsfunktion und tritt ein für ihren Erhalt. Zugleich verordnet sie den weiterführenden Regelschulen erste Qualitätsstandards: Förder- und Regelschüler sollen dort künftig nur noch gemeinsam unterrichtet werden, wenn eine passable Lehrer-Schüler-Relation tatsächlich geschaffen ist und dies der Entwicklung der Behinderten auch wirklich nützt.

Aus demselben Grund sollen Gymnasien auch nur Förderkinder aufnehmen müssen, deren kognitives Potenzial in dieser Schulform Erfolg verspricht - also etwa keine lernbehinderten. Selbst die Bremer Gymnasialdirektorin ist mit ihrer viel beachteten Klage gegen die Weisung, eine Inklusionsklasse einzurichten, ja nur formal unterlegen: Sie muss künftig nicht etwa geistig Behinderte zum Abitur führen, sondern lediglich eine parallele Spezialklasse für sie einrichten - eine Art Showeffekt für die bremische Inklusionsideologie.

Die Forschung hat übrigens gute Effekte einer breiten, sonderpädagogisch begleiteten, inklusiven Beschulung bislang nur in Grundschulen nachweisen können. Für stark gehandicapte Kinder werden dagegen weltweit Spezialschulen empfohlen, zumindest phasenweise. Und die hoch entwickelte Expertise hiesiger Sonderpädagogen, die Bremen schon mal ganz abschaffen wollte, genießt globalen Respekt.

Schielen auf Quoten ist inhumaner Unsinn

Aber widerspricht der NRW-Schwenk nicht der Behindertenrechtskonvention der UN? Diese fordert zu Recht, allen Menschen freien Zugang zum allgemeinen Bildungswesen zu geben, waren doch Behinderte in vielen Ländern lange vom Schulbesuch ausgeschlossen. Allerdings erfüllt das deutsche Bildungswesen die UN-Maßgabe bereits weitgehend: Unsere Förderschulen sind derjenige Teil des allgemeinbildenden Schulsystems, der gesellschaftliche Teilhabe durch spezifische Unterstützung herbeiführen soll. Solche Maßnahmen gelten laut Konvention gerade nicht als Diskriminierung (Art. 5, Abs. 4), sondern können im Einzelfall geradezu geboten sein (Art. 7, Abs. 2). Dass sich an Förderschulen oft Kinder aus prekären Milieus ballen, spricht keineswegs gegen diesen Schultyp - ihnen würde in großen Regelschulklassen gewiss nicht besser geholfen.

Also alles gut in Düsseldorf? Keineswegs. Ministerin Gebauer stoppt zwar den Erosionsprozess im Förderbereich, doch viele bewährte Strukturen sind bereits zerschlagen, die dringend benötigten Spezialpädagogen fehlen. Da sind auch die den Grundschulen versprochenen zusätzlichen Sozialpädagogen nur ein Notnagel: Sonderpädagogische Problemlagen können sie kaum einschätzen. Ex-Schulministerin Löhrmann hat eben keine fruchtbaren Spuren hinterlassen, sondern furchtbare - insbesondere das Feld des Lehrernachwuchses hat sie sträflich vernachlässigt.

In der Inklusionsfrage ist das Schielen auf Quoten inhumaner Unsinn. So viel Gemeinsames wie möglich, so viel Getrenntes wie nötig, das wäre eine tragfähige Devise für den Umgang mit Behinderung. Schüler mit schweren Handicaps sind ohne - zumindest zeitweise stattfindende - exklusive Lerngruppen einfach aufgeschmissen. Der emeritierte Sonderpädagoge Otto Speck hat mit der Formel "dual-inklusiv" eine versöhnliche Perspektive vorgeschlagen: Man solle doch für jedes Kind nach den günstigsten Bedingungen suchen. Worin diese bestehen, darüber müssten Lehrer und Eltern befinden, nicht die Politik oder eine Ideologie.

Wir brauchen also bestens ausgestattete Inklusionsschulen und separate Förderschulen, die in einem durchlässigen Verbund mit Regelschulen stehen. Auch kooperative Förderklassen an Regelschulen wie in Bayern ergeben Sinn. Solange wir uns Steuerentlastungen für Großkonzerne leisten können, sollte uns die dynamische Vielfalt für Schwächere nicht zu teuer sein.

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