Messerstecherprozess:Die eigene Tat vor Augen

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Der Beschuldigte wird von Polizisten in einen Gerichtssaal geführt. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem Mord in drei Fällen sowie versuchten Mord in elf Fällen vor - begangen im Zustand der Schuldunfähigkeit. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Am zweiten Tag der Verhandlung gegen Abdirahman J. werden im Gerichtsaal Videos der tödlichen Attacken in Würzburg vorgeführt. Auch Zeugen kommen zu Wort. Sie schildern das Unbegreifliche.

Von Annette Ramelsberger, Veitshöchheim

Der Mann kann sich selbst nicht dabei zusehen. Kann es nicht ertragen, wie im Gerichtssaal seine Taten vorgeführt werden, auf Video, immer wieder, aus verschiedenen Perspektiven. Wie er das Messer erhebt, bereit zum Stich, wie er durch die Gänge des Kaufhaus Woolworth in Würzburg läuft und auf eine Frau nach der anderen einsticht. Wie er durch Würzburg läuft, tänzelt, ein riesiges Messer in der Hand, den Arm erhoben. Der Beschuldigte hält es nicht aus. Schon nach ein paar Sekunden richtet sich Abdirahman J. an seinen Verteidiger und bittet darum, das nicht weiter ansehen zu müssen. Es sind Videos, vor denen der Vorsitzende Richter Thomas Schuster die Zuschauer gewarnt hatte: "Überlegen Sie sich ganz genau, ob Sie sich das anschauen wollen."

Die Zuschauer haben die Wahl zu entscheiden, der Beschuldigte nicht. Er muss dabei sein, wenn allen gezeigt wird, was er tat. Sein Anwalt rät ihm, nicht hinzuschauen, sondern den Blick auf den Tisch zu senken. Da sitzt er nun, der 33 Jahre alte Somalier, den Kopf auf der Tischplatte, die Hände auf das kurze Haar gelegt - als wenn er sich vor seinen eigenen Taten schützen wollte. "Es geht ihm sehr schlecht", sagt Verteidiger Hans-Jochen Schrepfer, "wenn er das hört und sieht, kommt er nicht damit klar."

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Drei Tote, elf Verletzte

Zwei Gutachter haben dem Messerstecher von Würzburg eine paranoide Schizophrenie attestiert, der Mann gilt als nicht schuldfähig. Dennoch müssen in diesem Prozess seine Taten nachvollzogen werden. Drei Frauen hat er getötet, elf Menschen zum Teil schwer verletzt.

Dann kommt die Frau, die sein erstes Ziel war: Stefanie S., 40. Sie stand arglos in der Haushaltswarenabteilung. Der Täter stach ihr in Hals und Nacken, mit voller Wucht. Die Frau sank sofort zu Boden. Als sie sich nicht mehr regte, ging Abdirahman J. weiter, zum nächsten Opfer. Er hielt die Frau für tot. Sie hat überlebt, aber sie kommt im Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren.

"Was haben Sie noch in Erinnerung?", fragt der Richter vorsichtig. "Ich weiß, dass ein Mann gefragt hat, wo die Messer sind", sagt sie. Dann ist sie schon zusammengeklappt unter seinen Stichen. "Dann hab ich gemerkt, wie das Blut einfach aus mir gelaufen ist." Sie war bei vollem Bewusstsein. Sie hat noch gespürt, wie ein Arzt ihr den Rucksack auf den Rücken gedrückt hat, um die Blutung zu stillen. Zwei Tage war sie im künstlichen Koma. Sie kann seitdem nicht mehr arbeiten, musste umziehen, in ein Haus mit Aufzug. Ihr Rückenmark wurde auf Höhe des dritten und vierten Brustwirbels komplett durchtrennt, auf Höhe des zweiten und dritten Halswirbels teilweise durchtrennt. Eine andauernde Querschnittlähmung unterhalb der Arme, erklärt der medizinische Gutachter.

"Ich kann halt nicht mehr laufen"

"Wie geht es Ihnen heute?", fragt der Richter. Die Zeugin schaut ein wenig hilflos auf ihren Rollstuhl. Dann sagt sie: "Ich kann halt nicht mehr laufen. Ich brauch für alles Hilfe. Ich kann noch nicht mal allein aufs Klo." Der Beschuldigte hat die Arme verschränkt, er starrt vor sich hin. Nicht nur die Konfrontation mit den Videos kann er nicht vermeiden, auch die Begegnung mit seinen Opfern.

Gleich am ersten Tag hat sich Abdirahman J., 33, entschuldigt. Er bedauere sehr das Leid, das er verursacht habe, las sein Verteidiger vor. Jetzt hat er dieses Leid unmittelbar vor Augen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, einen Rachefeldzug geführt zu haben, um seinen Hass auszuleben, weil er sich von den deutschen Behörden "gequält" fühlte. Der Täter war 2015 nach Deutschland gekommen.

Dann erscheint Hossein M., der Kaufhausdetektiv. Er hat gesehen, wie Stephanie S. angegriffen wurde. Er kann sich noch erinnern, dass sie eine kurze, schwarze Hose trug, es war ja warm. Er war gerade vor dem Kaufhaus, als der Angriff begann, rannte rein und versuchte, den Mann mit dem Messer zu stören - irgendwie. Denn er selbst war ja unbewaffnet. Der Detektiv griff sich Schneidebretter und Gläser, warf sie nach dem Täter, traf ihn auch am Arm, da rannte der Angreifer hinter ihm her, nach draußen. Nun sieht er diesen Mann, gefesselt mit Fußfesseln, die ihm nur einen schleppenden Gang erlauben. Einen Mann, der den Kopf geneigt hält.

Hossein M. ist dem Mann hinterher, hat ein Baustellenschild gepackt, um ihn in Schach zu halten, einen Stuhl. Dann kam die Polizei, gab einen Warnschuss ab. In diesem Moment sei der Angreifer erschrocken gewesen, habe weggeschaut und er habe ihm den Stuhl auf den Kopf gehauen. Da sei Abdirahman J. das Messer aus der Hand gefallen.

"Der Herr, der hier so ruhig sitzt und so tut, als könnte er keiner Fliege was antun, war damals anders", sagt Hossein M. "Jetzt sitzt er da und sagt Entschuldigung. Aber meine Lebensfreude ist gestorben. Ich möchte den Herrn hier nie wieder sehen, ihm nie mehr auf der Straße begegnen." "Das verstehe ich", sagt der Richter.

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