Bayerns Schulen in der Pandemie:Reizwort Durchseuchung

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Die Inzidenz unter Kindern ist hoch - Schulen bleiben trotzdem geöffnet. Doch steckt wirklich eine böse Absicht dahinter oder nicht eher der Wunsch, Kinder nicht wieder zu Hause zu vereinzeln? (Foto: dpa)

Rekord-Inzidenzen bei Kindern, drohende Ausfälle bei den Lehrern: Die Omikron-Welle treibt die Schulen in Bayern um, das Kultusministerium hält aber am Präsenzunterricht fest. Bei manchen wirft das einen bösen Verdacht auf.

Von Johann Osel und Max Weinhold, München

Geimpft, und zwar dreifach, ist die gesamte Lehrerschaft an der Hans-Adlhoch-Schule in Augsburg. Trotzdem treibt Rektorin Sabine Stahl-Schnitzler die Sorge vor einer womöglich drohenden Abkehr vom Präsenzunterricht an der Grund- und Mittelschule um. Zwei Lehrkräfte haben sich angesteckt, an einer kleineren Schule ist das schon relevant. "Noch können wir es stemmen. Aber wenn sich Omikron in der Lehrerschaft weiter verbreitet, wird es schwierig."

Und die Kinder? Aktuell befinden sich gut 50 der rund 440 Kinder in Quarantäne oder Isolation, "die Zahlen sind natürlich hoch". Doch das liegt ihrer Ansicht nach nicht daran, dass der Schulbetrieb aufrechterhalten wird. Sondern vielmehr daran, "dass Omikron so unheimlich ansteckend ist und Infektionen im privaten Umfeld nicht zu verhindern sind". Eine Durchseuchung? Ja, die mag vielleicht stattfinden, glaubt die Rektorin. "Das liegt aber nicht an den Schulen".

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Das D-Wort: Durchseuchung. Seit ein paar Wochen ziert es auf Twitter als Hashtag Klagerufe von Eltern und Lehrern. Die Inzidenz betrug zum Wochenende in Bayern bei Sechs- bis Elfjährigen mehr als 4000, bei Zwölf- bis 15-Jährigen knapp 3000 (wobei die Werte längst nicht mehr als zuverlässig gelten). "Wir wollen reinen Wein eingeschenkt bekommen: Sollen Schulen jetzt durchseucht werden?", fragt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV).

Auch vom Philologenverband hieß es: Wenn ein schneller endemischer Zustand die politische Devise sei, "dann sollte dies auch so benannt werden". Die SPD-Gesundheitspolitikerin Ruth Waldmann sagt, es laufe alles "auf eine unkontrollierte Ansteckung hinaus, man vermeidet nur das scheußliche Wort Durchseuchung". Sie rügt: "An den Schulen brennt es und die Staatsregierung tut so, als nehme alles seinen geregelten Gang."

Was ist dran an der These von der Durchseuchung? Das Kultusministerium will auf das Wort partout nicht eingehen: weder auf eine Anfrage Waldmanns dieser Tage, ob die Durchseuchung "in Kauf genommen" werde, noch auf Nachfrage der SZ, wie man denn zu diesem Vorwurf stehe. Stattdessen gibt es die Erklärung der Regeln, wie sie auch Kultusminister Michael Piazolo (FW) nach dem jüngsten Kabinett verteidigt hatte. "Oberste Maxime" bleibe Präsenzunterricht, mit Blick auf das körperliche und seelische Wohlergehen von Kindern führe daran kein Weg vorbei. Das "engmaschige Sicherheitsnetz" mit Testen und Lüften ermögliche das. Mehr als 90 Prozent aller Schüler waren zuletzt noch im regulären Unterrichtsbetrieb.

Eine Änderung gibt es seit Mittwoch aber: Bei größeren Ausbrüchen (rund 50 Prozent) können Schulleiter ganze Klassen in den Distanzunterricht schicken, für fünf Tage. Sie müssen nicht auf Anweisung des Gesundheitsamts warten. Infizierte Schüler müssen ohnehin heim, die restliche Klasse "kann" das Amt als Kontaktpersonen einstufen; ansonsten dürfen Schüler, in deren Kurs ein Fall auftritt, mit intensivierter Testung bleiben. Piazolo sagte, dass bei circa 50 Prozent die Präsenz "schulorganisatorisch nicht mehr Sinn" ergebe (für Kita-Gruppen hat das Sozialministerium die Marke bei 20 Prozent angesetzt). Vereinzelt wird nun bereits von Schulklassen berichtet, in denen die 50-Prozent-Marke geknackt ist - für ein Zwischenfazit sei es noch zu früh, hieß es im am Freitag im Ministerium. Aus der Schulfamilie komme "Wohlwollen" für die Regelung.

"Wir sind grundsätzlich guter Dinge", sagt Bernhard Rothauscher, Direktor des Goethe-Gymnasiums Regensburg mit mehr als 1300 Schülern. Ende der Woche befand sich eine Klasse komplett im Heimunterricht. Davon, dass viele folgen werden, geht er nicht aus. Rothauscher will von einer akzeptierten Durchseuchung nicht sprechen. Er habe "das Gefühl, dass alle ihr Bestes tun, um Infektionen zu vermeiden". Die Maßgabe für Vor-Ort-Unterricht befürwortet er "zu 100 Prozent. Wir merken, dass die Kinder nach einem halben Jahr Schule vom Sozialverhalten wieder deutlich besser aufgestellt sind". Das sei das Allerwichtigste, da sei der Unterricht selbst erstmal sekundär.

Bei Rektorin Stahl-Schnitzler in Augsburg greift die 50-Prozent-Schwelle noch in keiner Klasse, obwohl dort insgesamt fast ein Viertel der Kinder fehlt. Auch sie will den Präsenzunterricht "so lange wie möglich aufrecht erhalten". Gerade in Grundschulen müsse man auch die Betreuungssituation durch Eltern berücksichtigen.

Was noch kommt in dieser Omikron-Welle für Lehrer- wie Schülerschaft, weiß freilich keiner. Allerorten in Bayern laufen jetzt Notvorbereitungen. Rothauscher berichtet etwa von einem Digital-Übungstag. Wenn der Betrieb zusammenbreche, wofür er aber momentan keine Indizien habe, "müssen wir natürlich von zu Hause aus unterrichten". In Elternrundbriefen anderer Schulen wird schon auf die Lernplattformen verwiesen. Auf drohende Lehrerwechsel oder Ausfälle. "Schon vor Corona mussten Schulen mit zu wenig Lehrpersonal zurechtkommen", meldet der Lehrerverband BLLV. Das räche sich nun in der Pandemie, der Präsenzunterricht "hängt damit am seidenen Faden".

"Präsenzunterricht ist total wichtig, gerade nachdem wir unheimlich viel Unterrichtsstoff verpasst haben", meint Fabia Klein, Sprecherin des Landesschülerrates. "Aber wir halten es für falsch, dass der Kultusminister um jeden Preis daran festhält", das sei schon "krass". Die Kritik der Schülervertreterin, die dieses Jahr Abitur schreibt, richtet sich gegen die 50-Prozent-Marke. "Diese Schwelle ist zu hoch. Es ist zu spät, erst einzugreifen, wenn in einer Klasse von 32 Kindern 16 infiziert sind." Mehr Flexibilität für Schulleiter wünscht sich Klein. Und für Schüler: Wer nicht kommen wolle, weil sie oder er vorerkrankt ist oder sich unsicher fühlt, müsse auch die Möglichkeit zum Online-Unterricht haben. Sie selbst fühle sich zurzeit nicht immer wohl im Klassenzimmer.

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