Prozess:Arzt und Politiker soll Patientinnen in 122 Fällen sexuell missbraucht haben

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  • Der Arzt und Kommunalpolitiker Hermann S. soll mehrere seiner Patientinnen in insgesamt 122 Fällen sexuell missbraucht haben.
  • Der Angeklagte räumt die Vorwürfe ein, will sich aber an eine genaue Fallzahl nicht erinnern.

Von Olaf Przybilla, Ansbach

Der Angeklagte Hermann S. soll in groben Zügen seinen Lebenslauf darstellen und da kommt schon in der Kurzfassung einiges zusammen, auf das stolz zu sein ihm keiner verübeln könnte. Hervorragendes Abitur, Medizinstudium in Würzburg, Facharzt für Allgemeinmedizin, drei Jahre lang leitete S. eine Klinik mit 200 Betten in Afrika, lernte die Landessprache, kümmerte sich um die Ärmsten. Im Jahr 2000 absolvierte er eine psychotherapeutische Zusatzausbildung, das Seelenleben von Menschen, sagt der 63-Jährige, habe ihn immer schon fasziniert.

Vor neun Jahren zog er als Kommunalpolitiker in den Kreistag ein, in den ÖDP-Bundesvorstand ließ er sich auch wählen. "Zukunftsfragen und die globale Entwicklung liegen mir am Herzen", sagt S. Dann macht er eine Pause, starrt auf die Tischplatte und drückt hervor: "Ja. Das ist jetzt alles weg."

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S. muss sich am Landgericht Ansbach wegen sexuellen Missbrauchs von Patientinnen in insgesamt 122 Fällen verantworten. Er soll die Not seelisch kranker Frauen ausgenutzt und mit drei Patientinnen über lange Zeiträume sexuelle Beziehungen unterhalten haben. Er soll sich dazu, meist per SMS, mit den Frauen zu Abendterminen in den Arzträumen verabredet haben, dann also, wenn die Arzthelferinnen bereits die Praxis in Feuchtwangen verlassen hatten.

In der Praxis, aber nicht nur dort, soll es zum Geschlechtsverkehr mit den Patientinnen gekommen sein. In Feuchtwangen, berichtet S., habe man ihn den "Mitternachtsdoktor" genannt, weil das Licht so häufig erst spät in der Nacht gelöscht wurde. Für die psychotherapeutischen Sitzungen habe er absolute Ruhe benötigt, erklärt er das. Da habe er es nicht ausstehen können, wenn eine Arzthelferin mit irgendeiner Abrechnung ins Zimmer platzte.

Hermann S. ist ein ungewöhnlicher Angeklagter und das nicht nur, weil er sich erhebt für eine persönliche Einlassung zur Sache. Vor Prozessbeginn kommen Menschen auf ihn zu und schütteln ihm die Hand, in der Verhandlungspause geht das munter so weiter. Das deckt sich mit der Beobachtung seines Anwalts, der erklärt, er könne sich nicht erinnern, dass ein Mann in Untersuchungshaft schon mal so viele Unterstützungspost zu lesen bekommen habe. Hermann S. befindet seit seiner Festnahme vor mehr als zehn Monaten in U-Haft. Was einiges aussagt darüber, wie gering seine Chancen sein dürften, diesen Prozess ohne Haftstrafe zu überstehen.

Nach dem ersten Verhandlungstag dürften die Chancen nicht gewachsen sein. Der Arzt räumt im Grundsatz die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ein. Er sagt aber, dass er die ihm vorgeworfene Anzahl von Einzelfällen so nicht bestätigen und sich auch nicht vorstellen könne, dass es so viele waren. "Mein Mandant führt nicht Buch darüber", sagt sein Anwalt, bevor sich der Angeklagte zu seiner Erklärung erhebt.

Er möchte um Verzeihung bitten, hebt S. an: Bei den Frauen, die er als "intime Freundinnen" empfunden habe, die nun zu Zeuginnen geworden seien; auch bei seiner Gattin und den vier Töchtern; und bei seinen Standeskollegen. Eine der betroffenen Frauen, eine 21-Jährige, ließ sich einer Borderline-Störung wegen von ihm behandeln, sie unternahm in der Praxis einen Suizidversuch. Eine zweite litt einer Vergewaltigung wegen an schweren seelischen Problemen, die dritte war in einer verzweifelten Lage, weil sie sich von ihrem psychisch kranken Mann trennte. Bei diesen Frauen, erläutert S., "ging es um Gefühle, Seelenschmerzen, Angst, Trauer, Verzweiflung".

Eine sexuelle Beziehung sei er deshalb mit ihnen eingegangen, "weil es ein Benefit für sie und für mich war", formuliert er, keinesfalls als Teil der Therapie. "Ich hoffe", sagt der Angeklagte und wendet sich leicht in Richtung Zuschauer- und Pressetribüne, "nicht ins sexuelle Schema gedrängt zu werden". Halte ihm jemand vor, ihm sei es nur um Sex gegangen, so fühle er sich davon nicht betroffen. Um Freundschaft und Bindungen sei es ihm zu tun gewesen. Dass "ein Arzt wie ein Pfarrer leben muss", sei ihm nicht bewusst gewesen. Er sei vielmehr davon ausgegangen, einvernehmlicher Sex könne nicht strafbar sein.

Der Beisitzende Richter macht wenig Hehl daraus, wie sehr ihn die Ausführungen des Mediziners, der seine Approbation in der U-Haft abgegeben hat, befremden. Ob die kranken Frauen überhaupt in der Lage gewesen seien, "eine Einvernehmlichkeit herzustellen", will er wissen. Und ob es nicht indiziert gewesen wäre, sie genau darauf hinzuweisen. "Kann ich Ihnen nur recht geben", sagt S., der speziell angesprochene Fall aber "war 2007, heute ist 2017".

Eine der Frauen, die er nach einer zuvor durchlittenen Vergewaltigung für Berührungen "desensibilisieren" wollte, habe ihm bestätigt, "dass ihr das guttut und das sie das weiter haben möchte". Wobei der Sex selbstredend nicht Teil der Desensibilierung gewesen sei, beeilt sich S. zu erklären. Sondern Folge einer Annäherung.

Stimme es, will der Staatsanwalt wissen, dass schon einmal gegen S. ermittelt wurde wegen einer Affäre mit einer Patientin. S. bestätigt das. Aber das Verfahren sei damals eingestellt worden, mit strafrechtlichen Implikationen habe er sich nicht befasst. Die Vertreterin der Nebenklage kann sich bei solchen Einlassungen schwer beherrschen. "Sie haben 16 Jahre lang nicht in die Berufsordnung geschaut?", fragt sie. Der ehemalige Arzt bestätigt das so.

Für den Prozess sind fünf weitere Termine angesetzt. Weil S. die Vorwürfe zwar dem Grundsatz nach einräumt, nicht aber die Anzahl der Fälle, dürfte den betroffenen Frauen eine Aussage nicht erspart bleiben. Sie gelten als schwer traumatisiert.

© SZ vom 12.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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