Nachtforscher:Im Wald, wo das Licht schläft

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Anton Kirchmair marschiert oft stundenlang durch den Wald. Das Gedicht "das dunkel" beschreibt die Erfahrungen. (Foto: Sebastian Beck)

Der Künstler Anton Kirchmair lebt abgeschieden im bayerischen Wald. Unterwegs mit einem, der Nacht und Finsternis erkundet - und damit sich selbst.

Von Andreas Glas

Es ist finster. Nur der Schnee beleuchtet den Weg zum Treffpunkt. Dann, allmählich, schälen sich Umrisse aus der Dunkelheit. Ein Mantel, ein Hut, die Konturen eines Mannes. Der Mann stapft näher, er reicht die Hand. Man möchte wissen, wie der Mann aussieht, mit dem man im Dunklen verabredet ist. Aber die Nacht sitzt wie eine Maske in seinem Gesicht. Der Mann kennt den Weg, er könnte vorausgehen. Aber er bleibt stehen. Er sagt: "Gehen Sie voraus!"

Vorn und hinten: Finsternis. Rechts und links: dunkler Wald. Man stochert mit den Stiefeln im Schnee, tastet sich voran. Nach ein paar Minuten, endlich: ein Haus mitten in der Landschaft, geduckt zwischen Hügeln und Nadelbäumen, in den Fenstern brennt Licht. Erst jetzt überholt Anton Kirchmair. Er drückt die Haustür auf, nimmt den Hut ab. Zum Vorschein kommen: mächtige Augenbrauen, grüne Augen und Pupillen, die einen festnageln.

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Man kennt jetzt sein Gesicht. Doch wer wissen will, was diesen Mann treibt, muss in dieser Nacht noch einmal mit ihm hinausgehen, noch tiefer in den Wald, tiefer in die Dunkelheit, deshalb dieses Treffen. Wenn man so will, ist Anton Kirchmair, 74, ein Masochist. Es ist eine Urangst des Menschen, in der Finsternis allein zu sein. Für Kirchmair ist der dunkle Wald ein Lebenselixier.

Der böse Wolf, die böse Hexe, böse Geister. Dass im dunklen Wald das Böse lauert, lernt jedes Kind im Märchenbuch. Auch die Horrorfilm-Macher kleben an diesen Mythen. Film für Film fahren Menschen in den Wald, um in der Abgeschiedenheit Urlaub zu machen oder auf Geisterjagd zu gehen - und begegnen dann bösen Hexen, Monstern oder einem Irren mit Schlachtermesser.

Ein Drehbuch, das verlässlich funktioniert, weil es eine reale Angst bedient. Eine Angst, der sich Kirchmair freiwillig aussetzt. Er sagt: "Du gehst rein in die Angst, in die Beklemmung. Das macht man nicht aus einem romantischen Gefühl heraus."

Bevor es wieder rausgeht, bittet er in die Stube seines Hauses, ins Licht, zu einem Gespräch über das Dunkle. Die Konfrontation mit der Dunkelheit sei auch die "Konfrontation mit dem Tod". Deswegen, sagt Kirchmair, "klammern die Menschen die Dunkelheit aus". Ihn dagegen zieht es hinaus in den finsteren Wald. Immer wieder. Für ein paar Stunden, manchmal eine ganze Nacht. Mutterseelenallein. Um das klarzustellen, sagt Kirchmair: "Mir geht es um die Freude am Leben."

Im Wald wartet die Stille, die es kaum noch gibt

Man versteht das wohl nur, wenn man seine Biografie kennt. Anton Kirchmair ist in München geboren, 1943, "das Heulen der Sirenen, das Detonieren der Bomben", beschreibt er als "die Lieder an meiner Wiege". Nach dem Krieg, sagt Kirchmair, "war die Stadt still, ohne Farben, ohne Bewegungen, voller Ruhe und Frieden". Das ist es, was er nachts im Wald noch findet: eine Stille, die es kaum mehr gibt, weil immer irgendwo ein Auto rauscht; eine Dunkelheit, die selten geworden ist. "Die Welt ertrinkt im Licht. Eine Katastrophe", sagt Kirchmair.

Lichtverschmutzung nennt die Wissenschaft dieses Phänomen. Der Begriff ist relativ neu, das Phänomen dagegen gibt es, seit sich künstliches Licht breitmacht. Es leuchtet in Wohnzimmerfenstern, Schaufenstern, es strahlt von Ampeln, Straßenlaternen, Reklametafeln. Pflanzen, Insekten und Vögeln macht die nächtliche Lichtsuppe zu schaffen - und auch Anton Kirchmair. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ihn das Leben in den Bayerischen Wald verschlagen hat, direkt an die bayerisch-böhmische Grenze.

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Vor gut 20 Jahren hat er Martha kennengelernt, seine heutige Frau. Er ist zu ihr gezogen, nach Marchhäuser, in dieses abgelegene Haus, gleich neben dem Grenzbach. Es gibt nur noch wenige Orte, an denen die Nacht so schwarz ist wie hier. Eine Gegend, die schon früher denen gehörte, die das Licht scheuten: den Schwirzern, die ihre Gesichter mit Ofenruß schwärzten, um nachts im Wald nicht von den Zöllnern ertappt zu werden. Damals schmuggelten sie Salz, Vieh, Schnupftabak. Heute ist das Grenzgebiet ein Ort der Prostitution, des Menschen- und Drogenhandels. Alles Geschäfte, deren Rushhour die Nacht ist.

Die Nacht, sagt Anton Kirchmair, "ist eine Halbwelt". Er zeigt die Nacht gerne her. Er freut sich, wenn ihn jemand in den Wald hinaus begleitet. Er will zeigen, dass das Dunkle nicht nur Angst schürt, sondern Ängste auch lösen kann. Eine gemeinsame Nachtwanderung "ist ein soziales Erlebnis", sagt Kirchmair. Das hat er schon als Bub erfahren, als seine Familie aus München nach Rundorf bei Rosenheim zog.

"Mit meinem Vater bin ich oft in der Nacht ins Gebirge gegangen", erzählt Kirchmair. Einmal sei da ein Tunnel gewesen, stockfinster, "da sind wir Hand in Hand durchgegangen. Mein Vater hat sich an der linken Wand des Tunnels entlang getastet, ich an der rechten. Mein Vater hat meine Hand genauso gebraucht wie ich seine". Man muss sich einer Urangst stellen, um Urvertrauen in die Welt und seine Mitmenschen zu entwickeln. Das hat er in der Finsternis gelernt.

"Wollen wir rausgehen?", fragt Anton Kirchmair. Also rein in die Stiefel, raus aus der Stube. Diesmal geht Kirchmair voraus. Er stapft über den Schneeteppich. Noch ist die Sicht gut, noch blockt kein Baum das Mondlicht. Der Schnee leuchtet, er ist kniehoch und mürbe. Wer nicht einsinken will, muss die Schritte behutsam setzen, muss sein Gewicht gleichmäßig auf die Füße verteilen.

Das klappt nicht immer, der Schnee ist zu weich, sackt immer wieder unter den Sohlen weg. Immer wieder muss man ein Bein aus dem Schneeloch ziehen, um den nächsten Schritt zu machen. Man folgt Kirchmairs Fußstapfen bis zum Grenzbach. Ein Satz über das gurgelnde Wasser, dann ist man angekommen. Im Wald, in der Dunkelheit.

Erfahrungen aus der Nacht: Das Gedicht "das dunkel" von Anton Kirchmair (Foto: SZ)

Um im Wald nicht verloren zu gehen, müsse man auf den Atem hören und auf die Schritte desjenigen, der vorausgeht, hat Anton Kirchmair in der Stube gesagt. Aber nicht jede Nacht ist gleich schwarz. Diese Nacht ist eine der helleren, eine Vollmondnacht. Man kann Kirchmair gut folgen - auch wenn der Vollmond nur spärlich durch die Baumwipfel lugt. Vollmond, auch so ein Mythos. Das fällt einem ein, als man so dahin stapft.

Und dann fällt einem der Wolf ein, der neuerdings wieder durch den Bayerwald streift. Man horcht jetzt in die Stille. Ist da was? Da ist das Knirschen des Schnees unter den Stiefeln, das Knacken der Äste, die man beiseiteschiebt, um sich den Weg durch das Baumlabyrinth zu bahnen. Sonst ist da nichts. Kein Heulen, kein Wolf, alles gut. Oder doch nicht? Irgendwas ist da. Kirchmair bleibt stehen. Er lauscht.

Es ist jetzt so still, dass man das eigene Herz schlagen hört. Aber da ist noch was. Ein Rauschen, ganz sanft nur. Es geht kein Wind, wie kann das sein? Das gebe es nur hier, im Bayerischen Wald, "woanders habe ich dieses Rauschen noch nie gehört". Sagt einer, der schon so viel gehört und gesehen hat im Leben. Nach einer Lehre zum Werkzeugmacher meldete sich Kirchmair in Hamburg als Seemann an, fuhr ein Jahr lang über die Meere.

Danach, beim Militär, marschierte er nachts im Hochgebirge in Mittenwald. Überhaupt, die Berge, er ist jahrzehntelang geklettert, überall. Aber "dass es rauscht, obwohl kein Wind geht, das habe ich nie so erfahren wie hier", sagt Kirchmair. Und stimmt dieses alte Volkslied an: "Wo rauschen die Wälder am Lusenhang, wo Bayern grenzt an das Böhmerland, im Woid, im rauschenden bayerischen Woid."

Dann stapft er weiter. Am Himmel hat der Mond eine Lichtspur zwischen die Wipfel der Bäume gelegt. Kirchmair folgt dieser Spur. Drinnen, in der Stube, hat er viel geredet. Er hat ja viel erlebt, man hört ihm gerne zu. Draußen, im Wald, spricht er kaum. Man folgt ihm stumm, aber ohne Angst. Kirchmair kennt die Dunkelheit zu gut, als dass man sich neben ihm unsicher fühlen könnte. "Heute fehlt die Dramatik", sagt er, "dieses Existenzielle, dieses In-die-Nacht-geworfen sein."

Plötzlich ist die Helligkeit da

Zur Sonnwende sei das anders. Dann ist die Nacht am längsten und schwärzesten, zumal hier, wo kein künstliches Licht den Himmel aufhellt. Dann sei es auch für ihn "ein Graus", in die Finsternis zu gehen. Er tut es trotzdem, jedes Jahr wieder. Weil er am Ende doch den Frieden findet, wo andere nur der Horror packt: im dunklen Wald.

Beim Gehen in der Stille, "da wird man leer", sagt Kirchmair, "das ist etwas Meditatives". Er ist ja Künstler, wahrscheinlich braucht er diese Leere. Er ist Grafiker, Bildhauer, Schriftsteller, Dichter. Die Nacht inspiriert ihn, das Dunkle ist sein Lebensthema. Wenn sich im Wald eine Lichtung auftut, mitten in der Finsternis, dann fasziniert ihn das. "Ein Phänomen, das ich bis heute nicht verstehe. Man kann nicht fassen, dass da plötzlich eine Helligkeit da ist. Ein Licht, so eine feine Abstufung, das ist verblüffend. Als ob das Licht da schläft", sagt Kirchmair.

Er stapft noch eine Weile durch die Dunkelheit, stapft zurück zum Waldrand. Dann taucht es wieder auf: dieses Haus, das sich zwischen Hügeln und Bäumen in die Schneelandschaft duckt. Anton Kirchmair drückt die Haustür auf. Und knipst das Licht an.

© SZ vom 05.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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