Landtag:Wie aus der Spagl Luise die bayerische Kantinenpräsidentin wurde

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Luise Ertl ist seit Jahrzehnten in den Kantinen von verschiedenen bayerischen Ministerien tätig, derzeit arbeitet sie im Innenministerium. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Schon als Mädchen servierte Luise Ertl in der Gaststätte des Landtags. Heute, mit 83, arbeitet sie immer noch zwölf Stunden am Tag. Sie hat sich gut gemerkt, welche Politiker sie freundlich behandelt haben - und welche nicht.

Von Lisa Schnell, München

Luise Ertl ist 83 Jahre alt. Jeden Tag um drei Uhr in der Früh fährt sie in die Arbeit und bindet sich ihren weißen Kittel um. Manchmal wird sie auf ihrem Weg von der Polizei aufgehalten. Eine alte Frau, die alleine durch die Nacht fährt, das kommt den Beamten seltsam vor. Wo sie denn hin wolle? "Zu Ihrem Arbeitgeber." Zu wem? "Na, Sie werden doch wissen, für wen Sie arbeiten." Verdutzte Blicke auf den Gesichtern der Polizisten, ein unmerkliches Lächeln auf dem von Ertl. Da ruft einer: "Das ist die Ertlin! Lasst sie fahren."

Ertl kannte den Polizisten nicht, er hat wohl ihre berühmten Fleischpflanzerl probiert, dafür kennt sie seinen Chef: Innenminister Joachim Herrmann und den früheren Finanzminister Kurt Faltlhauser und noch mehr "Persönlichkeiten". So nennt Ertl die Politiker in ihrem Leben. Zuhause hat sie eine Blechbox mit all ihren Weihnachtskarten. Jetzt brüht sie Kaffee auf im Filter, die neuen Maschinen sind nichts für sie. Auf dem Tisch hat sie Croissants hergerichtet, die bei ihr noch "Hörndl" heißen. Sie setzt sich hin, streicht die Tischdecke glatt und weiß nicht recht, was sie erzählen soll. Das Leben einer alten Frau, einer Kellnerin aus dem Bayerischen Wald, was sollte da so interessant sein? Nach vier Stunden und vielen Tassen Filterkaffee ist klar: So ziemlich alles.

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Ertl war eine kleine Bedienung, so weit entfernt von der großen Politik und trotzdem so nah dran wie nur wenige. Schon mit 17 Jahren, als München noch in Trümmern lag, servierte sie im Landtag. Sie deckte ein für den ersten CSU-Chef ("Ach ja, der Ochsensepp. Der Höchste unter den Großkopferten"), später leitete sie die Kantinen derer, die den Freistaat leiten. Fast 30 Jahre sind es schon, sie war im Finanz- und im Kultusministerium. Herrmann ist ihr vierter Minister. Ertl erinnert sich, wer im Landtag Trinkgeld gab und wer nicht. Sie weiß, welcher Minister beliebt ist, wer schnell vorbeihechtet und wer noch Zeit hat für ein "Grüß Gott" an sie, die Dame hinter der Kasse. Sie sagt, mit Politik kenne sie sich nicht aus. Vielleicht aber weiß niemand besser, wer "nah am Menschen ist" und wer nur davon spricht. An einen wird sie sich immer erinnern. Sie sah ihn als junges Mädchen. Denkt sie jetzt als alte Frau an ihn, werden ihre Augen feucht.

Um das zu verstehen, muss man zurückgehen an den Anfang dieser Lebensgeschichte, die eigentlich nicht von Politikern handelt. Sie erzählt von einer Frau, die mit 83 Jahren noch zwölf Stunden am Tag arbeitet, einfach, weil sie es nicht anders kennt, die am Anfang nichts hatte und jetzt recht viel und das ohne jede Hilfe, schon gar nicht von einem Mann.

Zur Welt kam Ertl 1935 als die Spagl Luise in Bodenmais, Niederbayern, damals das Armenhaus Bayerns. Im Winter waren die Fenster so angefroren, dass sie nicht raussehen konnte, sie hörte sie klirren, wenn in Nürnberg die Bomben fielen. Nach der Schule ging sie in den Wald, der bei ihr daheim "Woid" heißt. Fand sie keine Erdbeeren oder Pilze, dann gab es nicht viel. Wenn der Hunger besonders bohrte, grub sie auf einem Feld Kartoffeln aus. Von den Amerikanern bekam sie ihre erste Orange, sie staunte und gab sie dann doch ihrer Mutter zum Vorkosten, man weiß ja nie. Dass sie von ihrer Mutter mal in den Arm genommen wurde, daran kann sich Ertl nicht erinnern: "Es war eine kalte Angelegenheit." Ihren Vater sah sie kaum. Zuerst war er im Krieg, dann in der Arbeit. Zu essen aber hatten sie nie genug. Das verstand Ertl schon damals nicht: "Wenn man arbeitet, muss man doch was haben!" Ihr würde das nicht passieren, das schwor sie sich als kleines Mädchen. Sie wollte nur "furt, furt, furt". Gleich nach der Volksschule ging sie.

Im Hotel "Bachmair" am Tegernsee half sie in der Küche und schlief im Keller, "eiskaltes Wasser, eiskaltes Bett". Zum ersten Mal kaufte sie sich richtige Schuhe: Schwarz, kleiner Absatz mit Schleifchen dran. Sie stellte sie auf den Schrank, damit sie sie immer bewundern konnte. 80 Mark kosteten die Schuhe, so viel verdiente Ertl in einem Monat, so viel gaben andere fürs Mittagessen aus. Ertl merkte schnell: "Des daugt nix, da bist ja wieder nur der Depp." Nur wer was lernt, "wer sei Hirn braucht", der wird was. Also ging sie nach München, das Hofbräuhaus suchte Lehrmädchen, auch für die Gaststätte im Landtag.

Im Hofbräuhaus fand Luise Spagl, wie sie damals hieß, eine Lehrstelle. Das Hofbräuhaus betrieb auch die Gaststätte im Landtag. (Foto: Alessandra Schellnegger)

35 Mark hatte sie im Monat, ihr Lehrlingsheim kostete sie 30 Mark. Den Rest musste sie mit Trinkgeld zusammenbringen. Jede Mark rechnete sie in Semmeln um. Einen Teebeutel goss sie dreimal auf. Von einem Tag auf den anderen war die Spagl Luise aus Bodenmais im Parlament, bei den Krawattenträgern, den "Persönlichkeiten". Die Nähe zur Macht zog sie nicht an, sie drückte sie nieder. Ertl führt Daumen und Zeigefinger zusammen, bis sie sich fast berühren: "So klein war ich." Und die anderen? Sie blickt ehrfürchtig nach oben wie eine Betende zum Himmel. Alle sprachen so umständlich, rankten die Worte zu komplizierten Gebilden, manches verstand sie nicht. Bodyguard? War das etwas besonderes zum Essen? Sie traute sich nicht zu fragen.

Wenn sie an die weiß gedeckten Tische ging, gestattete sie sich nicht, die feinen Herren anzuschauen. Die anderen Kellnerinnen traten ihr mit den Füßen auf die Fersen, damit sie den Blick hob. Sie lachten über die Kleine aus dem Bayerischen Wald, die weiche Brezen "doagad" nannte. Sie schickten extra sie los, wenn Sigi Sommer kam, der Journalist. Sommer trank nur Lagerbier, so vier, fünf ab dem frühen Nachmittag, und Lagerbier gab es nur in der Schwemm im Keller. Ertl stieg die Treppen runter und hörte schon das Gelächter der Schenker. Sommers Spitzname war Blasius wegen seiner Kolumne, die er schrieb. Als die junge Ertl dann nach Bier für den Blasius fragte, fielen den Mannsbildern allerlei Witze ein. Und sie hatte einen Kopf, so rot wie eine Tomate. Die alte Ertlin hätte ihnen einen Spruch hingepfeffert, der jungen Luise Spagl liefen die Tränen über die Wangen.

Wenn Ertl heute erzählt, dann mit kurzen, trockenen Sätzen. Wer viel einstecken muss, der wird hart, eine "kühle Angelegenheit" eben. Dann aber zeigt ihr der Besuch Bilder von den Politikern, die sie bediente. Franz Josef Strauß? Den kannte sie schon von weitem. Wo der war, war's laut. Hanns Seidel? Immer kurz und bündig, Telegrammstil, so wie alle: "Die wollen sich doch mit einer Bedienung nicht lang abgeben." Da sieht sie das Bild von einem Mann: dicker Schnauzer, nachdenkliche Augen. Ihre Finger streichen über sein Gesicht, sie lächelt, kichert fast wie ein kleines Mädchen. Kennt sie den? "Ja, schon." Mehr bekommt sie gerade nicht heraus.

Verliebt war sie in ihn, nicht als Mann, sondern als Mensch. "Wie geht's Derndl?", habe er immer gefragt. Sie! Eine Küchenhilfe! "Das war eine Sensation." Ertl hat viele getroffen in 83 Jahren, zweimal hat sie geheiratet. Sie sagt: "I hob nie an Menschen kennengelernt, der so war, mit so einem großen Herz." Einen Vater wie ihn hätte sie sich gewünscht. Immer wollte sie mit ihm sprechen "so als Mensch", ihm erzählen, wie die "hantigen Nonnen" sie im Lehrlingsheim aussperrten, weil sie ein paar Minuten zu spät kam, wie sie vor der Tür bibberte bis zum nächsten Morgen. Sie wollte ihn fragen, wo sie hingehen könne, dass sie auch so "gscheid" wird wie die Herren im Landtag. Sie hat es sich nie getraut. Wer dieser Mann ist, wusste sie bis zum Gespräch über ihr Leben nicht.

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Wilhelm Hoegner war der "Vater der bayerischen Verfassung". Als Ertl sich ihm entgegen sehnte, war er Ministerpräsident, bis heute der einzige von der SPD. Ertl wählte ihr ganzes Leben lang CSU.

Wenn sie heute an die junge Luise Spagl im Landtag denkt, sagt sie ihr: "Du warst ein großes Rindviech." Ertl war 24 Jahre alt, als sie das erste Mal heiratete, den Konrad, auch ein Wirtshausbursche. Nie schlief sie bei ihm, das gehörte sich nicht. Was in der Hochzeitsnacht passieren würde, wusste sie nicht. Sie wartete auf den siebten Himmel, aber er kam nicht. Ihre Freundinnen schwärmten von tollen Nächten und sie wusste nicht, warum: "Was ich alles versäumt hab!"

Ertl ging nicht aus, sie sparte jede Mark, legte sie in einen braunen Beutel unter ihr Kopfkissen. Irgendwann hatten sie und ihr Mann genug zusammen für ein kleines Wirtshaus in der Au. Ertl kochte. Sie hatte es nicht gelernt, aber sie ging in andere Lokale und passte gut auf, was da auf dem Teller lag. Während sie über den Töpfen hing, spielte ihr kleiner Sohn am Boden mit alten Erbsenbüchsen. Es war die Zeit, als aus der schüchternen Luise Spagl die "Ertlin" wurde. Sie schmiss die Kartenspieler raus, wenn sie sich um eine Mass Bier stritten. Sie zeigte der Bedienung, wie man 14 Mass trägt. Und sie sparte. Am Ende hatten sie ein Ausflugslokal mit 600 Plätzen in Pullach. 18 Stunden arbeitete sie am Tag, ihr Mann saß am Tresen und trank Schnaps. Nach 17 Jahren ließ sie sich scheiden. 1979 war das, ihre Familie sagte, eine geschiedene Frau ist eine Schand, ihre Freunde meinten: "Jetzt derbräselts sie." Ertl aber machte weiter. Elf Jahre leitete sie die Bosch-Kantine. Dann ging sie mit ihrem Sohn als Koch ins Kultusministerium.

Zum ersten Mal nach 37 Jahren saß sie wieder einem Minister gegenüber. Diesmal schaute sie Kultusminister Hans Zehetmair direkt in die Augen und fand, da sitzt ein "arroganter Gimpi". Als sie im Ministerium anfing, bestellte er sie in sein Büro. "Herzitiert" habe er sie, als sei er "Königin Elisabeth". In der Kantine sei er dann nie gewesen. Der Faltlhauser aber, des war "ein Netter", sagt Ertl. Der Finanzminister kam immer in die Küche und bedankte sich, wenn es besonders gut schmeckte. Früher waren für sie alle mit Krawatte noble Herren, jetzt sagt sie: "Die san zwar gscheida, aber arbeiten miassns aa."

Vier Stunden hat sie jetzt erzählt, alle Hörndl sind aufgegessen. Ihre Geschichte begann in Niederbayern, wo sie Kartoffeln ausgrub, und endet in einer Wohnung in München, die ihr selbst gehört. An den Wänden hängen Bilder von ihren Söhnen und Enkelkindern. Einer aber fehlt da noch. Ertl drückt das Bild von Wilhelm Hoegner an ihr Herz: "Darf ich das behalten?"

© SZ vom 24.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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