Das Kreuz an der Wand hat den Mann durch einen großen Teil seines Lebens begleitet. In der Benediktinerabtei in Ettal hängt es überall, und es wird auch in den Präfektenzimmern hängen, in denen sich der Mann, der damals Pater Georg war, von 2001 bis 2005 um die Ettaler Internatszöglinge gekümmert hat. Jetzt hängt da über ihm wieder ein Kreuz, an der beigefarbenen Wandbespannung im Sitzungssaal des Münchner Strafjustizzentrums.
Denn im Ettaler Präfektenzimmer ist es zu Übergriffen an Schülern gekommen, die das Landgericht München II als schweren sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen wertet. Jürgen R., wie sich der einstige Pater Georg inzwischen wieder mit seinem bürgerlichen Namen nennt, muss dafür voraussichtlich mehrere Jahre ins Gefängnis. Am Donnerstag vertagt sich das Gericht - am kommenden Mittwoch soll das Urteil fallen.
Es könnte aber die erste Haftstrafe für einen Ettaler Mönch sein, seit im Jahr 2010 die teils bis in die allerjüngste Vergangenheit reichende Geschichte von Misshandlungen, Kinderpornografie und Missbruch im Benediktinerinternat öffentlich geworden ist.
Kloster Ettal:Pater gesteht Missbrauch
Bisher stritt er alle Vorwürfe ab, doch nach der Aussage eines Zeugen entschuldigt sich der angeklagte Pater. Das Gericht wertet das als Geständnis - was eine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs zur Folge haben könnte.
Dem Angeklagten gehe es auch darum, "nochmalige negative Publicity für das Kloster zu vermeiden". So zitiert die Vorsitzende aus dem Protokoll eines Rechtsgesprächs, das die auf verschiedenen Seiten am Prozess beteiligten Juristen im Juni geführt hatten. Auch dem Opfer, einem 1991 geborenen Mann, wolle der Angeklagte eine neuerliche Aussage vor Gericht ersparen.
Dieses Opfer hat schon einmal ausgesagt, als R. im März vergangenen Jahres zu einem Jahr und zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden war. Damals hatte der Angeklagte - nach einem Geständnis gegenüber den Ermittlern der Polizei - vor Gericht lange geleugnet und erst spät ein Geständnis abgelegt, als eines von drei Opfern von noch schwerer wiegenden Taten berichtete, als die damalige Anklage umfasste. Für diese Taten an diesem einen Opfer steht R. am Donnerstag vor Gericht, und dass er nichts bestreite und alles bedauere, hat er abermals seinen Verteidiger zu Protokoll geben lassen.
Die Vorsitzende will sein Geständnis gerne von ihm selber hören, aber viel mehr als ein bestätigendes "Ja" zu einzelnen Punkten und einige zeitliche Präzisierungen zu anderen Vorwürfen sagt der Angeklagte nicht. Für Fragen zur Sexualität seines Mandanten will der Verteidiger die Öffentlichkeit ausschließen lassen. Bekannt ist aus dem vorigen Verfahren, dass er als junger Mann Freundinnen gehabt hat.
Die Benediktiner wählte er, weil sie meist im gleichen Kloster bleiben
Der Zölibat erschien ihm nicht als Problem, als er 1995 in die Ettaler Benediktinerabtei eintrat. Das Leben in der gläubigen Gemeinschaft hatte er davor schon kennengelernt, als er nach Realschulabschluss und Banklehre in einem Spätberufenenseminar der Karmeliten in Bamberg sein Abitur nachgeholt hat. Die Benediktiner wählte er, weil sie in der Regel immer im gleichen Kloster bleiben.
Doch in der abgeschlossenen Klosterwelt von Ettal, die wegen des Samstags- Unterrichts auch die Schüler kaum verließen, fielen dann Dinge vor, die doch einen Wechsel notwendig machten. 2005 schickte ihn der Orden wegen offenkundiger Distanzlosigkeiten gegenüber Schülern in das Kloster Wechselburg in Sachsen, wo er ausgerechnet als Jugendseelsorger und Leiter des Jugend- und Familienhauses tätig wurde, nachdem er in Ettal schon für einige Monate in die Klostergärtnerei und die Verwaltung geschickt worden war.
Von Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs war 2005 noch nicht die Rede. Inzwischen haben sie schon zur zweiten Gerichtsverhandlung geführt. Denn der Mann, der als Mönch Theologie studiert hat und in Ettal auch als Religionslehrer tätig war, soll sich unter anderem mehrmals an dem Siebtklässler vergangen haben, für dessen Jahrgang er im Schuljahr 2003/2004 als Präfekt den Alltag im Internat gestaltet hat. In der Anklage ist von Filmabenden auf dem Schoß des Präfekten die Rede, vom Streicheln über und in der Schlafanzughose, von Rotwein und schließlich von Oralverkehr. Der Schüler war da die längste Zeit noch keine 14 Jahre alt.
Das Opfer muss nicht noch einmal in den Gerichtssaal
Ob es im Schuljahr darauf, als der Präfekt für eine andere Klasse zuständig war, zu weiteren Taten kam, bleibt am Donnerstag unklar. Das Opfer, das wegen des Geständnisses nicht noch einmal aussagen muss, leidet bisher nicht unter körperlichen oder seelischen Folgen. So berichtet es der Kriminalbeamte, der den heute 24-Jährigen noch einmal vernommen hat. Bei der ersten Vernehmung stand dieser kurz vor dem Abitur, erst später habe er genug Distanz, Reife und Willen verspürt, über alle die Taten zu berichten, über die er so lange schweigen hatte müssen.
Dass das Opfer nicht leidet, wertet die Vorsitzende ebenso mildernd wie das Geständnis. Auf höchstens fünf Jahre, wie der Verteidiger in einem weiteren Rechtsgespräch vorschlägt, will sich die Kammer nicht festlegen. Die Staatsanwältin fordert mindestens acht Jahre, das Gericht stellt sechs bis sieben Jahre in Aussicht, doch ein Deal kam in der Sitzungspause am Donnerstag nicht zustande.
Während der laufenden Bewährung von 2015 hat der Angeklagte eine Therapie begonnen. Eine Stelle bei einer Firma für Online-Marketing hat er verloren, nachdem er im April in Untersuchungshaft genommen wurde. Die Kirche hat ihn kraft eines Urteils aus Rom inzwischen als Mönch und Priester verstoßen. Dennoch soll es keine negative Publicity geben, was Prozessbeobachter aus dem Umfeld des Klosters vermuten lässt, dass die Kirche womöglich auch diese Seele nicht ganz verloren geben wird, wenn der Mann aus dem Gefängnis kommt.
Der Verteidiger macht jedenfalls vor Publikum keine Anstalten, für seinen Mandanten mildernde Umstände herauszuarbeiten. Die hätten etwa aus einer systemischen Mitverantwortung, aus einer stillschweigenden Duldung erwachsen können, wie sie lange auch in Ettal lang gepflegt worden war, wo über die Jahrzehnte gut ein Dutzend Patres sich an mehr als 100 Schülern vergangen haben sollen. Viele Täter sind inzwischen verstorben, es gab nur einige Bewährungsstrafen. Das Kloster zeigt sich geläutert. Im Herbst will es im Internat erstmals Mädchen aufnehmen.