Wenige Tage vor dem Start des Festivals ist Carsten Gerhard ganz entspannt. "Angenehm aufgeregt", beschreibt der Intendant der Europäischen Wochen Passau (EW) seinen Gemütszustand. Beruhigend für ihn ist zum einen der Blick auf die guten Vorverkaufszahlen. Zum anderen laufen die Proben zu "Kriemhild" gut. Mit der Uraufführung des sinfonischen Spiels zum Nibelungenlied eröffnen die Festwochen am 1. Juli. Und dann hat endlich auch Passau eine eigene Nibelungenproduktion.
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Zu recht natürlich. Schließlich ist sich die Forschung weitgehend darüber einig, dass das berühmte Heldenepos vor 800 Jahren hier niedergeschrieben worden ist. In Passau wird die Geschichte um Liebe, Treue, Eifersucht, Betrug, Mord und Totschlag in Passau allerdings aus der Sicht von Kriemhild erzählt. Schließlich sei es an der Zeit, männerdominierte Schlachtengemälde aus einer anderen Perspektive zu betrachten, findet Gerhard. "Kriemhild ist schließlich der Dreh- und Angelpunkt des Epos, auch wenn dank der deutschen Heldenverehrung Hagen und Gunther die berühmteren Helden wurden."
Die Historiker gehen heute davon aus, dass der unbekannte Autor des Nibelungenlieds sich seinerzeit am Hof des Bischofs Wolfger von Erla aufhielt. Vermutlich erteilte ihm der kunstfreundliche Kirchenmann, Bischof in Passau von 1191 bis 1204, sogar den Auftrag. Jedenfalls kannte sich der Dichter im Donauraum gut aus, beschreibt im zweiten Teil des Werks Orte und Landschaften so anschaulich, als habe er sie selbst gesehen. Auffallend auch, dass Passau und sein Bischof Pilgrim, eingeführt als Onkel Kriemhilds, eine herausragende Rolle in der Dichtung spielen.
Der historische Pilgrim, Bischof von 971 bis 991, war es übrigens, der die Hochzeit des Ungarnkönigs Stefan I. mit der bayerischen Herzogstochter Gisela einfädelte. Gisela kehrte nach dem Tod des Königs nach Passau zurück, leitete als Äbtissin das Nonnenkloster Niedernburg. Und für manche besteht sogar eine Analgie zwischen in der Figur der Kriemhild und der seligen Gisela.
Das Nibelungenlied beschäftigt die EW schon seit etlichen Jahren. Schon im April 2020 hatte Gerhard das niederschwellige Mitmach-Projekt Heldenepos gestartet, um zu zeigen, dass es auch in Pandemie-Zeiten möglich ist, Projekte gemeinsam zu gestalten. Der Aufruf, die rund 10 000 Verse des Nibelungenliedes als Webvideos einzulesen, stieß auf große Resonanz. Die ersten zehn Abenteuer sind längst online mitzuerleben, die nächsten zehn werden demnächst veröffentlicht ( www.ew-passau.de/heldenepos).
Parallel dazu beschäftigte den Intendanten die Frage, wie das im Original vermutlich performativ gedachte Nibelungenlied heute aufgeführt werden könnte. Kurzzeitig liebäugelte er mit einer Theaterfassung, entschied sich dann aber dafür, den Text in den Mittelpunkt zu stellen. Libretto und Komposition übernahm der Münchner Komponist Enjott Schneider, den meisten bekannt durch seine Filmmusiken. "Es ist eine wunderbare Mischung aus Hörspiel und Oratorium geworden", findet Gerhard, schwärmt von mitreißenden Klängen und elektronischen Einspielungen.
Spielen wird das Symphonieorchester des Passauer Konzertvereins unter der Leitung von Markus Eberhard. Keine Profis also, sondern ein ambitioniertes Laienorchester, das sich der Herausforderung wohl mit großer Begeisterung stellt. Eine sehr bewusste Entscheidung des Intendanten, dem daran liegt, die Passauer Stadtgesellschaft in "ihre" Nibelungen einzubinden. Das gilt auch für den Festspielchor, der die Ereignisse kommentiert. Die Kriemhild singt Sopranistin Theresa Pilsl, zwar auf internationalen Bühnen unterwegs, aber in Passau geboren. Den Text spricht Miroslav Nemec, als "Tatort"-Kommissar sowieso überall präsent.
Natürlich bieten die EW neben Kriemhild noch andere Höhepunkte. Auf dem Programm stehen Lesungen mit Robert Menasse oder Andrej Kurkow, dem ehemaligen Präsidenten des ukrainischen Schriftstellerverbandes PEN. In seinem "Tagebuch einer Invasion" hat er aus persönlicher Sicht die Wochen vor und nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 dokumentiert.
Was die Musik betrifft: Gerhard freut es besonders, dass es neben anderen Stars wie Geigerin Julia Fischer oder Pianist Alexander Lonquich gelungen ist, im Rachmaninov-Jahr - 80. Todestag und 150.Geburtstag - Mikhail Pletnev und das Philharmonische Orchester Györ mit dessen zweitem Klavierkonzert und dessen zweiter Sinfonie in die Domstadt zu holen. Und der Intendant hofft, dass dieses Mal das Wetter mitspielt bei der Abschlussveranstaltung auf der Waldbühne - so nennt Gerhard Passaus ehemaligen Thingplatz lieber. Denn nur dann kann der Videokünstler Lillevan zu Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung", gespielt vom Stuttgarter Kammerorchester, ein Spektakel aus Farben und Formen entfalten.
Schade ist, dass es heuer keine Ausstellung am Innkai gibt. "Aus Sicherheitsgründen", sagt Gerhard. Geboten wird stattdessen die rein digitale Schau "Walls of Power", die die immer noch - oder wieder - vorhandenen Grenzen in Europa in den Fokus rückt.
Europäische Wochen Passau , Eröffnung am 1.7., 19.30 Uhr, Dreiländerhalle mit der Uraufführung von "Kriemhild", www.ew-passau.de