Verkürzte Gymnasialzeit:"G 9 ist gut für mich"

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G 8? G 9? Viele Bayern wollen Wahlfreiheit, das zeigt eine SZ-Umfrage. Doch die CSU sträubt sich. Im Nachbarland Baden-Württemberg ist das G 9 dagegen bereits wieder Realität. Ein Besuch in Plochingen zeigt: Wenn das G 8 funktioniert, dann nur mit Ach und Krach.

Von Roman Deininger

Sandra hat ja an ihrer Cousine gesehen, wohin das alles führt, an ihrer Cousine Mira, die früher beinahe jeden Nachmittag mit ihr gespielt hat und jetzt ziemlich oft sagt: "Geht nicht, ich bin in der Schule." Schlimm genug also, dass Mira nur noch so wenig Zeit zum Spielen hat, findet Sandra, aber noch schlimmer wäre es natürlich gewesen, wenn sie diesen Stress auch selbst hätte mitmachen müssen: "Das G 8 gibt dir Druck. Darauf hatte ich keinen Bock." Sandra hat sich statt dem achtjährigen Gymnasium also für das neunjährige entschieden, sie hat da eine klare Meinung: "G 9 ist gut für mich."

Sandra besucht die Klasse 5a des Gymnasiums Plochingen im Stuttgarter Speckgürtel, es ist halb zehn Uhr an einem Mittwochvormittag und "Freiarbeit". Die Schüler haben die Tische zusammengeschoben, das sieht jetzt nach Kaffeetafel aus, nur ohne Kaffee. Unter Anleitung von zwei Lehrerinnen üben sie 90 Minuten lang Deutsch und Englisch: ein Luxus, den sie im G 8 kaum bis gar nicht genießen dürften. Und zwischendrin erzählen sie, warum sie sich fürs G 9 entschieden haben - und warum diese Entscheidung ihnen genauso leicht gefallen ist wie ihrer Klassenkameradin Sandra.

"Wenn es das G 9 nicht gäbe, wäre ich heute auf der Realschule."

Kai sagt: "Ich spiele fünfmal die Woche Tennis, das will ich nicht aufhören." Felix sagt: "Bei mir ist es das Gleiche, ich spiele Fußball beim FC Esslingen." Nadja sagt: "Ich will mit dem Schwimmen nicht aufhören müssen." Sonja sagt: "Meine Freundinnen aus dem G 8 schaffen es nicht mehr zum Turnen." Darius sagt - oder nein, er ruft eher, ziemlich empört: "Ich geh' doch nicht aufs G 8, wenn alle meine Freunde aufs G 9 gehen." Und dann ist da noch Sarah, die kürzlich aus der sechsten Klasse des G 8 in die fünfte Klasse des G 9 zurückgetreten ist, die Strapazen waren ihr zu groß. Sie sagt: "Wenn es das G 9 nicht gäbe, wäre ich heute auf der Realschule."

Seit vergangenem Jahr gibt es das G 9 am Gymnasium Plochingen, oder besser: Es gibt es wieder. 2004 hatte die damalige Landeskultusministerin Annette Schavan (CDU) in Baden-Württemberg das achtjährige Gymnasium eingeführt, begleitet von erhitzten Diskussionen, die nie so ganz aufgehört haben. Wenn das G 8 funktionierte, dann oft bloß mit Ach und Krach.

Die grün-rote Koalition unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat das Rad nun zurückgedreht, aber nur sehr zaghaft: An 44 "Modellschulen" im Südwesten - in jedem Stadt- und Landkreis eine - ist der neunjährige Zug wieder zugelassen, indes nur als ergänzendes Angebot: Das G 8 soll weiter das "Normalgymnasium" sein. Ein schwäbisches Experiment, dessen Verlauf auch bayerische Schulpolitiker mit größtem Interesse verfolgen dürften.

Von "Wahlfreiheit" hatten die Grünen und vor allem die SPD in Stuttgart anfangs geschwärmt, sie ahnten nicht, was Schüler und Eltern mit ihrer Freiheit anstellen würden: Im Schuljahr 2012/2013 begann ein wahrer Sturm aufs G 9. Und im Schuljahr 2013/2014 wird er noch heftiger werden.

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Das Gymnasium Plochingen, mit 1300 Schülern das zweitgrößte in Baden-Württemberg, bildete 2012 sechs fünfte Klassen: viermal G 9 und zweimal G 8. 2013 fällt die Sache noch klarer aus: Von sieben fünften Klassen werden voraussichtlich sechs G 9 sein und nur eine G 8. "Ich hätte eigentlich fürs G 9 werben sollen bei den Eltern, das musste ich gar nicht", sagt Schulleiter Udo Bochinger. "Inzwischen muss ich aber fürs G 8 werben." Eine der Lehrerinnen, die Sandra und die anderen aus der 5a bei der Freiarbeit betreuen, sagt: "Man hat schon den Eindruck, dass die meisten G-9-Schüler glücklicher sind."

Es gibt ein neues Normalgymnasium in Plochingen, und nicht nur dort. In ländlichen Regionen meldet kaum noch jemand sein Kind für das "Turbo-Abi" an. An einer Schule wurden die limitierten G-9-Plätze wegen des großen Andrangs verlost. Immer mehr Gymnasien wollen am Modellversuch teilnehmen, auch der Landeselternbeirat fordert eine Ausweitung.

Die Regierung Kretschmann hat das alles ziemlich in die Bredouille gebracht: Grün-Rot liefert sich in der Frage inzwischen einen zünftigen Koalitionsstreit. Im Vergleich zum Stuttgarter Debattenton in der Gymnasiumsfrage gehen CSU und FDP in Bayern recht manierlich miteinander um.

"Nicht wenigen G-8-Absolventen fehlt ein wenig die Reife"

Der Modellversuch war nämlich immer nur ein Kompromiss, ein Zugeständnis der Grünen an die SPD - wie die bayerischen Grünen würden auch die Parteifreunde im Nachbarland lieber an der Verbesserung des G 8 basteln. Für die leidgeplagten Genossen dagegen, die in Kretschmanns Schatten nicht viel Licht bekommen, ist das Thema ein veritabler Hoffnungsschimmer. Kürzlich forderte Landtagsfraktionschef Claus Schmiedel, die Ein-Mann-Abteilung Attacke der Südwest-SPD, dass mindestens 120 Schulen - etwa ein Drittel aller Gymnasien - das G 9 anbieten dürfen. Schließlich gelinge es in keinem Bundesland, das G 8 so zu verändern, dass es "keine Riesenbelastung" für die Schüler sei.

"Wer die Augen öffnet, kann beobachten, dass das Zwangs-G 8 bundesweit auf dem Rückmarsch ist", polterte Schmiedel. Sollten sich die Grünen nicht bewegen, würden die Roten im Landtagswahlkampf 2016 den Bürgern sagen: "Wenn ihr eure Kinder vom Zwangs-G 8 befreien wollt, müsst ihr SPD wählen." Die Grünen freilich fürchten den Niedergang des G 8 auch, weil dieser das Prestigeprojekt der Regierung untergraben könnte: die Einführung der Gemeinschaftsschule.

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Die CDU schaut sich die grün-roten Querelen derweil zufrieden an, wird aber vor der Landtagswahl 2016 den Bürgern erklären müssen, warum sie ganz beim G 8 bleiben will. Die FDP schlägt vor, die Entscheidung über das Angebot den Schulen selbst zu überlassen.

Im Gymnasium Plochingen sitzt Direktor Udo Bochinger in seinem Büro und erzählt, dass er das G 8 im Grunde für eine "gute Idee" halte: "Man hätte bei der Einführung allerdings größere Korrekturen am Bildungsplan vornehmen sollen."

Bochinger, rotes Hemd, bunte Krawatte, hat 15 Jahre in den USA und in Schweden gearbeitet. Von diesen Ländern, sagt er, könne man lernen, was Flexibilität sei und wie solche Korrekturen aussehen könnten: "Warum nicht statt Biologie, Chemie und Geografie in bestimmten Jahrgängen ein übergeordnetes Fach 'Science' anbieten?" Er glaube übrigens gar nicht, dass die Schüler vom G 8 wirklich überfordert seien - die Klagen kämen mehr von den Eltern.

Aber natürlich sehe er auch die Vorteile des G 9, versichert Udo Bochinger, ganz konkret jeden Tag an seiner Schule: Der Stoff sitze besser, weil mehr Zeit zum Üben bleibt, der Freizeitstress werde reduziert. Mit dem zusätzlichen Jahr habe man in Plochingen die Unterstufe gedehnt, berichtet der Direktor: "Unsere Erfahrung ist, dass die Schüler in jungen Jahren mehr Zeit brauchen." Zeit, die ihnen später auch nicht abgehen würde: "Nicht wenigen G-8-Absolventen fehlt ein wenig die Reife, teilweise sind das ja noch Kinder."

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© SZ vom 22.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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