Dieselskandal:Bayerns Justiz ächzt unter den vielen Dieselklagen

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  • Bayerns Landgerichte sind durch Klagen wegen des Dieselskandals schwer belastet.
  • Jedes der 22 Landgerichte muss wegen des Abgasskandals zusätzlich zu den üblichen Zivilverfahren mehrere Hundert Klagen gegen VW und andere Autohersteller abarbeiten.
  • Seit im September 2015 bekannt wurde, dass Volkswagen Dieselfahrzeuge mit manipulierter Software verkauft hat, haben Tausende deutsche Autokäufer Klage eingereicht.
  • Besonders belastet ist das Landgericht Ingolstadt, wo zusätzlich Klagen aus der ganzen Republik gegen die Audi AG einlaufen.

Von Claudia Henzler, Nürnberg

Es ist Peter Zieglers letzter Sitzungstag vor Ostern. Im Saal 259 des Nürnberger Justizzentrums spricht der Vorsitzende Richter der neunten Zivilkammer Recht wie am Fließband. Fast ein Dutzend Verkündungstermine hat er für den Vormittag angesetzt. Die Kläger müssen nicht persönlich erscheinen, es reicht, wenn sie ihren Anwalt schicken. Doch der Besitzer eines VW Golf will sich das Urteil lieber selbst anhören - und ist keine fünf Minuten später schon wieder draußen. Er hat soeben gegen die Volkswagen AG gewonnen. Ziegler hat den Autobauer dazu verurteilt, das Auto zurückzunehmen und dem Kläger den Kaufpreis zu erstatten - unter Abzug einer Nutzungsentschädigung. Formal ein Erfolg, doch der Richter ergänzt seine Dieselurteile gerne mit dem ironischen Kommentar "Dann viel Spaß beim Vollstrecken!" Oder er sagt ganz direkt: "Davon werden Sie nicht viel haben, denn VW geht in Berufung."

Bayerns Justiz ächzt unter den vielen Dieselklagen. Jedes der 22 Landgerichte muss wegen des Abgasskandals zusätzlich zu den üblichen Zivilverfahren mehrere Hundert Klagen gegen VW und andere Autohersteller abarbeiten. Denn seit im September 2015 bekannt wurde, dass Volkswagen Dieselfahrzeuge mit manipulierter Software verkauft hat, haben Tausende deutsche Autokäufer Klage eingereicht. Es geht vor allem um Fahrzeuge der Marken Volkswagen, Audi, Škoda und Seat, in denen ein Dieselmotor vom Typ EA 189 verbaut wurde. Weil viele Juristen davon ausgingen, dass Ende 2018 die Verjährung drohte, wurden die Gerichte vor Silvester noch einmal mit einer regelrechten Klagewelle überschwemmt. Am Landgericht Würzburg zum Beispiel gingen allein im Dezember 212 Klagen gegen VW ein.

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In Nürnberg summierten sich die Dieselklagen im vergangenen Jahr auf 1375. Mehr als 600 davon sind noch offen. Und der möglichen Verjährung zum Trotz sind in diesem Jahr 64 neue hinzugekommen. "Bei uns im Haus wird fast jeden Tag VW verhandelt", sagt Nürnbergs Justizsprecher Friedrich Weitner.

Die Klagen verteilen sich auf das ganze Land, weil sie nicht zwingend am Sitz des Herstellers eingereicht werden müssen. Auch der Wohnort der Kläger kann maßgeblich sein. Die Lage wird in einigen Landgerichten als äußerst angespannt empfunden. Genaue Zahlen gibt es dazu aber nicht. Eine Umfrage der SZ zeigt, dass an den kleineren Landgerichten von Ansbach bis Weiden fast überall zwischen 200 und 300 Verfahren allein gegen VW anhängig sind, in Traunstein sind es sogar 580 Verfahren.

An den beiden Münchner Landgerichten sind im vergangenen Jahr zusammen etwa 1300 Dieselklagen eingegangen. Allein am Landgericht München II sind noch gut 600 Verfahren anhängig, darunter 53 aus dem Jahr 2019. Regensburg, das die offenen Klagen gegen alle Fahrzeughersteller gezählt hat, kommt auf 700. Augsburg hat vor den Osterferien 730 unerledigte Verfahren gegen VW gezählt. Sie werden auf 29 Richter verteilt, die auch für andere Zivilverfahren zuständig sind.

Im Dezember sind fast 650 neue Abgasverfahren in die Geschäftsstelle geschwappt

Besonders belastet ist das Landgericht Ingolstadt, wo zusätzlich Klagen aus der ganzen Republik gegen die Audi AG einlaufen - betroffen sind inzwischen auch weitere Motormodelle. Allein im Dezember sind fast 650 neue Abgasverfahren in die Geschäftsstelle geschwappt. Und von Januar bis Mitte April sind weitere 400 Klagen dazu gekommen. Zum Vergleich: Normal werden am dortigen Landgericht gut 1400 Zivilverfahren pro Jahr behandelt. Der Dieselskandal bringt den Betrieb fast ins Schleudern. "Es ist grauenhaft", sagt Gerichtssprecherin Heike Linz-Höhne. Der Wahnsinn fängt in der Geschäftsstelle an, wo Mitarbeiter die oft mehr als hundertseitigen, von Großkanzleien manchmal lieblos zusammenkopierten Klageschriftsätze händisch mit einem roten Stift durchnummerieren müssen - "paginieren" heißt das im Amtsbetrieb.

Theoretisch entstehen dem Steuerzahler durch den Dieselskandal zwar keine Kosten, weil die streitenden Parteien den Prozess selbst bezahlen. Faktisch hat er aber große Auswirkungen auf den gesamten Justizbetrieb. Die Richter haben weniger Zeit für andere Fälle, Prozesse verzögern sich oder ziehen sich in die Länge. Und mancherorts ist die Belastungsgrenze erreicht, obwohl die Dezemberwelle noch gar nicht in den Sitzungssälen angekommen ist.

In Ingolstadt wurde die Geschäftsstelle aufgestockt. Außerdem hat das Landgericht zwei halbe Richterstellen von zugehörigen Amtsgerichten abgezogen. Wirklich geholfen hat das aus Sicht von Heike Linz-Höhne nicht. "Die kleinen Amtsgerichte schmerzt der Stellenabzug sehr und wir arbeiten trotzdem noch permanent 30 Prozent über dem Landesdurchschnitt. Bei aktuell 21 Richterstellen fehlen dem Landgericht nämlich immer noch ganze sieben Richter." Die Stadt Ingolstadt ist in den vergangenen Jahren rasant gewachsen, und mit ihr nahmen auch die Aufgaben des Landgerichts zu.

Bayerns Justizministerium will die Problematik im Auge behalten, weist aber darauf hin, dass die zivilrechtlichen Verfahren an den Landgerichten von 2014 bis 2017 zurückgegangen seien. Aus Sicht vieler Richter ist der Arbeitsaufwand im selben Zeitraum jedoch gestiegen, weil die Fälle komplexer geworden seien. Und in Ingolstadt trifft das mit dem Rückgang ohnehin nicht zu. "Bei uns haben die Eingänge auch in den letzten Jahren zugenommen", sagt Linz-Höhne.

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Das Nürnberger Landgericht verhandelt die Abgasklagen gebündelt an einer Kammer. Das ist eine Ausnahme, in den anderen bayerischen Gerichten werden sie auf alle Zivilrichter verteilt. Die Rechtssprechung ist dabei unterschiedlich. "Unser Landgericht gibt vielen Klagen statt", sagt Nürnbergs Gerichtssprecher Weitner. Wird auf Rückabwicklung geklagt, bekommen die Kläger den Kaufpreis mit Abzug zurück. Wollen sie das Auto behalten, können sie in der Regel eine Preisminderung erreichen. Während sich Nürnberg auf eine käuferfreundliche Linie geeinigt hat, werden die Klagen an manchen Gerichten fast durchgängig abgewiesen, an manchen liegt die Erfolgsquote bei etwa 50 Prozent.

Doch egal wie das Urteil ausfällt: Die unterlegene Partei geht fast immer in Berufung, was dank Rechtsschutzversicherung auch für die Kläger kein Problem darstellt. Am Oberlandesgericht Nürnberg sind fast 1200 Berufungen eingegangen - wurden jedoch nie verhandelt. Denn kaum hatten die Richter einen Termin angesetzt, wurde die Berufung zurückgezogen. Warum, erfahren die Gerichte nicht. Man hört aber, dass die Volkswagen AG den Klägern, bevor es in die zweite Instanz geht, ein Vergleichsangebot macht, über dessen Inhalt sie nicht sprechen dürfen.

Vorher müssen Autokäufer aber ganz offensichtlich die erste Instanz als Hürde nehmen. So bleiben die Landgerichte beschäftigt. Und auch Richter Ziegler nimmt an seinem letzten Sitzungstag vor Ostern nach der Mittagspause wieder Platz im Saal 259. Ab 13 Uhr hat er Verhandlungstermine im Viertelstundentakt angesetzt.

© SZ vom 23.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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