Ein Klassenzimmer in Regensburg, im Unterricht läuft ein Video. Zu sehen ist Kellyanne Conway, die Beraterin des US-Präsidenten Donald Trump. Sie diskutiert mit dem NBC-Journalisten Chuck Todd über die Zuschauerzahl bei Trumps Vereidigung in Washington. Todd spricht von Lügen, Conway von alternativen Fakten. Conway, Trump, NBC - das klingt nach Sozialkunde, haben wir uns verlaufen? Auf dem Plan stand Griechisch. "Alternative Fakten, was fällt euch auf?", fragt der Lehrer André Löffler. "Das ist ein Oxymoron", sagt eine Schülerin.
Also doch richtig. Die Elftklässler lernen im vierten Jahr Altgriechisch, Stilmittel sind ein Kinderspiel für sie. "Zur Wahrheit gibt es eine Alternative? Protagoras würde Beifall klatschen", sagt Löffler. Es geht um den Wahrheitsbegriff der Sophisten. "Über ,Eins plus Eins ist Zwei' kann man nicht streiten", sagt ein Schüler. Doch. "Aus Sicht der Sophisten kann man mit rhetorischen Fähigkeiten alles verkaufen", sagt Löffler.
Warum soll sich ein Gymnasiast heute mit Altgriechisch befassen? Die Frage nach dem Nutzen ist legitim, im Regensburger Albertus-Magnus-Gymnasium (AMG) wird sie nicht gestellt. Wahrer Luxus sei, etwas einfach so zu lernen, lautet hier eine Maxime. "Französisch mag ich nicht, Mathe kann ich nicht und die griechische Mythologie hat mich schon immer interessiert", sagt eine Achtklässlerin. Also wählte sie Altgriechisch. "Französisch kann ich später nachlernen, Altgriechisch nicht", sagt die 13-Jährige. Noch Fragen?
Seit dem frühen 16. Jahrhundert lernen Kinder aus Regensburg und Umgebung am AMG Griechisch und Latein, aber gerade Altgriechisch wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Spielt das humanistische Bildungsideal in modernen Schulen überhaupt noch eine Rolle, da doch Tablets und Powerpoint-Präsentationen längst gängigere Begriffe sind als der Philosoph Platon und der Totengott Thanatos?
Das von Wilhelm von Humboldt begründete humanistische Gymnasium steht am Anfang aller Gymnasialformen. Heute gibt es in Bayern noch vier rein humanistische Schulen: das Gymnasium Fridericianum Erlangen, das Maximilians- und das Wilhelmsgymnasium in München sowie das Melanchthon-Gymnasium Nürnberg, das als ältestes Gymnasium überhaupt gilt. In diesen Schulen lernen alle Kinder erst Latein, dann Englisch, dann Altgriechisch.
Großes Interesse an alten Sprachen
Außerdem bieten 46 Gymnasien einen humanistischen Zweig an. Wer will, kann dort Altgriechisch lernen, alle anderen wählen moderne Fremdsprachen. Vergangenes Schuljahr haben in Bayern 3100 Mädchen und Buben Altgriechisch gelernt. Die Zahlen sind seit Jahren stabil, Latein belegten 132 200 Schüler. "Das humanistische Gymnasium ist auch in der Gegenwart aktuell", heißt es im Kultusministerium, dessen Chef Ludwig Spaenle einst selbst Latein und Altgriechisch gepaukt hat.
Das Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg feiert 2026 sein 500-jähriges Bestehen. Das Logo der Schule ist die Eule der Athene sowie die Totenmaske des Reformators Melanchthon. "Die Schulart hat sich bewährt", sagt Direktor Hermann Lind. Er hat die humanistische Schule von klein auf durchmessen. 1969 kam er als Bub ans Melanchthon, später kehrte er als Latein- und Griechischlehrer zurück, nun ist er der Chef.