Bildung:Viele Jugendliche leiden noch immer an Corona-Folgen

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Prüfungsängste, Essstörungen, Panikattacken: In Bayern leiden nach wie vor viele Schüler an den Folgen der Corona-Pandemie. (Foto: Imago)

Zehn bis zwanzig Prozent jeder Klasse seien betroffen, sagen Fachleute. Aber das Programm, mit dem psychische Folgen der Pandemie und Lernlücken abgepuffert werden sollen, läuft im Sommer aus.

Von Anna Günther

"Der größte Fehler war, dass wir bei den Kindern zum Teil zu streng gewesen sind", sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kürzlich dem Spiegel als Corona-Bilanz. "Wir hätten mehr tun müssen", um Bildungsdefizite zu vermeiden, haben die Kinder zu wenig "psychotherapeutisch betreut", haben Warnsignale übersehen. Die Staatsregierung wird sich von Lauterbachs "wir" kaum angesprochen fühlen, gehört Ampel-Bashing doch zum Standardprogramm von CSU und Freien Wählern. Aber diese Erkenntnis hatten auch bayerische Politiker, diese Erkenntnis teilen Lehrer, Eltern, Schüler.

2023 wurde Corona offiziell für beendet erklärt. Im Sommer läuft nach drei Jahren das Programm "gemeinsam Brücken bauen" aus, mit dem Corona-Folgen, Lernschwächen und psychische Probleme der Schüler aufgefangen werden sollten. 158 Millionen Euro gab der Bund, Bayern legte 52 Millionen Euro drauf. Davon konnten die bayerischen Schulen zusätzliche "Unterstützungskräfte" wie Lehramtsstudierende oder Pensionisten beschäftigen, es gab Förderkurse während des Schuljahrs, Sommerschulen in den Ferien, Tutorenprogramme, und der Bayerische Jugendring bot Ferienprogramme an. Mit Ende dieses Schuljahrs ist das vorbei. Das Problem ist: Die Kinder leiden immer noch an den Folgen der Pandemie.

Regina Knape erzählt von Jugendlichen mit Prüfungsängsten, Essstörungen, Süchten, PC-Abhängigkeiten, Panikattacken. Aus Lerndefiziten seien Ängste entstanden, die psychosomatisch werden und zu einem Gefühl der Sinn- und Wertlosigkeit führen können. Zehn bis zwanzig Prozent jeder Klasse dürften betroffen sein, schätzt die Schulpsychologin, die sich im Philologenverband um dieses Gebiet kümmert. Die Dunkelziffer sei höher. Drei bis fünf Jugendliche pro Klasse hätten Symptome wie Panikattacken, weitere zehn bis zwanzig Prozent hätten fachliche Defizite oder dürften sogar den Anschluss verloren haben.

"Bis wir die Corona-Folgen überwunden haben, wird es noch fünf bis sieben Jahre dauern", sagt Knape, die in Coburg an einem Gymnasium arbeitet und an der Schulberatungsstelle für Oberfranken. "Wir können jetzt nicht plötzlich zur Normalität übergehen, dafür gibt es viele Belege der wissenschaftlichen Institute." Dass nicht alles gut ist, zeigten auch die Lernstandserhebungen. Sie erlebe Schüler, die in der Grundschule nie schulisch sozialisiert wurden, weil sie zwei von vier Jahren gar nicht dort waren und vieles nicht üben konnten, sagt Knape. Die Kinder hätten keine Ausdauer, und keine "Anstrengungsdisziplin". Das könnten weder die Eltern auffangen, noch die Lehrkräfte im Regelunterricht. Um diese Rückstände aufzuholen, brauche es individuelle Lerncoachings, inhaltliche Förderung, Zeit und Geld für Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen.

Für den "Mainstream" sei Corona vielleicht vorbei, sagt Hans-Joachim Röthlein, Vorsitzender des Schulpsychologenverbands, aber "es gibt so viele Kinder, die konzentrations- und aufmerksamkeitsgestört sind. Da müssten wir draufschauen und mit ihnen arbeiten." Für Knape und Röthlein müssen die Millionen aus "gemeinsam Brücken bauen" unbedingt weiterfließen. "Davon könnte man einen ganzen Schwung neuer Fach- und Förderlehrer ausbilden, die gezielt mit den Kindern arbeiten", sagt Röthlein.

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Auch Gabriele Triebel, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, fordert die Verlängerung. Die Strukturen seien jetzt vorhanden, wieso soll man das wieder abbauen? Allein der Bayerische Jugendring habe Tausende Ferienbetreuungsplätze geschaffen. Das helfe allen Eltern, aber "wenn Kinder aus prekären Verhältnissen keinen Input bekommen, geht das Wissen der Schule über den Sommer verloren", sagt Triebel. Sie würde die Förderung an einen "scharfen Sozialindex" koppeln, damit Geld nur nach Bedürftigkeit verteilt werde. Aus ihrer Sicht wäre das eine zusätzliche Maßnahme, um mit den "verheerenden Pisa-Ergebnissen" umzugehen. Die Studie habe wieder gezeigt, dass in kaum einem Land der Erfolg in der Schule so stark vom Elternhaus abhänge wie in Deutschland.

Mit einem entsprechenden Antrag ist Triebel allerdings im Landtag gescheitert. Auch aus dem Kultusministerium heißt es, dass "gemeinsam Brücken bauen" mit Schuljahresende abgeschlossen werde. Schüler mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Problemen würden durch 1860 Beratungslehrkräfte und 1080 Schulpsychologen unterstützt, zudem gebe es die Schulberatungsstellen.

Trotz der Absage ist Triebel positiv gestimmt: Der Sozialindex kommt. "Das markiert einen Wendepunkt in der Förderung von Chancengerechtigkeit", sagt sie. Mit dem Startchancen-Programm des Bundes sollen in den kommenden zehn Jahren 4000 Schulen in Deutschland unterstützt werden. Dafür muss das Kultusministerium einen Sozialindex erstellen. Mit 20 Milliarden Euro wollen Bund und Länder Schulen stützen, deren Kinder besonders benachteiligt sind. Der Index soll bei der Auswahl helfen. Faktoren dürften Armut und Migrationshintergrund sein. Nächstes Schuljahr sollen bereits die ersten Kinder davon profitieren.

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