Es sind Beschreibungen wie die von Liane Bissinger, die viele der Abgeordneten im Plenarsaal des Landtags erschüttern. Bissinger ist Frauenärztin in München, sie kümmert sich seit Jahren um Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter. Sie berichtet vom Zustand, in dem sich viele Frauen, aber auch Männer und Transpersonen befinden, die sie behandelt. "Ihre Lebensrealität hat nichts mit Pretty Woman oder der Studentin, die als Escort arbeitet, zu tun. Oft haben sie 150 Freier im Monat, fünfmal am Tag wird der Körper einer Frau anal, oral oder vaginal penetriert. Andere Gewalt, zum Beispiel die Penetration mit der Faust, ist da nicht eingerechnet."
Die Prostituierten litten neben psychischen Problemen häufig unter "weitreichenden Folgen von Infektionen", die durch Verletzungen im Intimbereich entstehen, von "dauerhaften Verletzungen des Schließmuskels", die es den Frauen und Männern oft unmöglich macht, ihren Stuhl zu halten. Die meisten dieser Frauen kämen aus Osteuropa und versuchten, so der Armut in ihren Heimatländern zu entfliehen.
Am Donnerstag waren auf Initiative der Grünen und der FDP zwölf Sachverständige in den Plenarsaal des Landtags eingeladen, um einen Überblick über die Situation von Prostituierten in Bayern zu geben. Ehemalige und aktive Sexarbeiterinnen sprachen dort, aber auch Wissenschaftlerinnen, ein ehemaliger Kripobeamter und Expertinnen aus der Fachberatung.
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Die Abgeordneten des Arbeits- und Sozialausschuss wollten wissen, wo die Politik nachbessern muss, um die Ausbeutung von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern einzudämmen und deren Situation maßgeblich zu verbessern. Dass es sich dabei um ein sehr komplexes und vielschichtiges Problem handelt, dürfte allen Zuhörenden schnell klar geworden sein. Schon alleine die relativ schlechte Zahlenbasis in Bayern macht es schwierig, einen Überblick über diesen Bereich zu bekommen. Während das Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales für das Jahr 2020 4105 Prostituierte verzeichnet, gehen Verbände und Beratungsstellen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Alleine in Nürnberg schätzt die Beratungsstelle Kassandra die Zahl der Prostituierten auf 1300 bis 1800.
Wie viele Personen davon der Armutsprostitution zuzurechnen sind und wie viele aus freien Stücken diesem Beruf nachgehen, kann bislang nur geschätzt werden. Genau diese Unterscheidung aber - ob eine Frau beispielsweise über Menschenhändler aus Ländern wie Ungarn, Rumänien oder der Ukraine in ein menschenfeindliches System der totalen Ausbeutung gezwungen wird - oder ob sie beispielsweise als Sexualassistenz in einem Altenheim oder als selbständige Sexarbeiterin arbeitet, zeigte in der Anhörung immer wieder die konträren Sichtweisen auf den Bereich.
Allein in Bayern sind nach Angaben des Netzwerks "Ella" in den vergangenen 20 Jahren mindestens 15 Prostituierte getötet worden. "Prostitution produziert Tote und Waisenkinder. Das ist unser Alltag", sagte Viktoria K. von dem Wiesbadener Prostituiertennetzwerk. Auch der ehemalige Augsburger Kriminaloberrat Helmut Sporer prangerte Gewalt gegen Prostituierte in Bayern an. Er berichtete von zahlreichen Opfern des Menschenhandels und darüber, dass diese Delikte viel zu selten geahndet würden: "Das gegenwärtige System produziert immer neue Opfer und das ist unverantwortlich."
Eine Sexarbeiterin kritisiert die Beiträge als zu emotional
Inge Bell von der Organisation Terre des Femmes geht davon aus, dass "die überwältigende Mehrheit" der Frauen, die in Deutschland der Prostitution nachgehen, "Not und Gewalt" erleben. Sie zitierte den Online-Kommentar eines Freiers: "Ein Land ohne Bordelle ist wie ein Haus ohne Klo." Dieser Satz zeige, "dass Frauen und Mädchen in der Prostitution gesehen werden wie Kloschüsseln - entmenschlicht", sagte Bell. "Und das darf nicht sein." Bell plädierte dafür, den sogenannten Sexkauf unter Strafe zu stellen - also nicht wie bislang Prostituierte zu kriminalisieren, sondern die Freier.
Ruby Rebelde, Vorsitzende bei Hydra e.V, einer Beratungsstelle zu Sexarbeit und Prostitution, arbeitet selbst seit vielen Jahren als Sexarbeiterin. Sie kritisierte die in ihren Augen emotionalisierenden und skandalisierenden Beiträge einiger Vorrednerinnen. Die häufig emotionale Berichterstattung über dieses Thema orientiere sich nicht an Fakten. Deshalb brauche es in Bayern einen wissenschaftlichen Beirat, der Sexarbeit fundiert untersuche. Zudem sei es ein Problem, dass Politiker, "die noch nie ein Bordell von innen gesehen haben", ein Gesetz erarbeiten.
Rebelde spielte damit auf das Mitte 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz an. Es sollte dazu beitragen, Mindestvorgaben zum Schutz und zur Sicherheit von Prostituierten zu schaffen. Zudem sollte dadurch organisierte Kriminalität und Menschenhandel eingedämmt werden. Auch sieht das Gesetz vor, dass ein Bericht über seine Auswirkungen erstellt werden soll. Diese Evaluation muss dem Bundestag aber erst 2025 vorgelegt werden. Viel zu spät in den Augen vieler Politiker und Experten im Bayerischen Landtag.