Gesundheit:Die Pflegekräfte gehen aus

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Wer soll das noch machen? Die Zahl der Pflegekräfte in Bayern schwindet bedenklich. (Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Eine neue Studie zeigt: Es ist noch schlimmer als gedacht. In allen Regionen Bayerns fehlt das Personal. Das wird sich auch auf die Einrichtungen auswirken.

Von Dietrich Mittler, München

Seit Jahren wird in Bayern über den drohenden Pflegenotstand, den Fachkräftemangel und die stetig steigende Zahl an pflegebedürftigen Menschen gemunkelt, geredet, gestritten. Eine neue Studie zeigt nun: Der Handlungsdruck ist höher als viele bislang vermuteten. Am Mittwoch stellte die Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB) das in ihrem Auftrag erstellte Monitoring der Öffentlichkeit vor - mit einer Datenfülle zum Pflegepersonalbedarf in Bayern, die es so bislang nicht gab. "Wir sehen große Versorgungsengpässe auf uns zukommen", sagte Georg Sigl-Lehner, der Präsident der Vereinigung, in München.

Nicht nur alarmierend, sondern sogar bedrohlich wirkt die Grundaussage der neuen Studie: Selbst wenn durch erfolgreiche Kampagnen und attraktivere Arbeitsmodelle mehr Menschen für den Pflegeberuf gewonnen werden sollten, so werde es nicht mehr gelingen, den bisherige Personalbestand zu halten. "Völlig illusorisch", stellten Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln und Thomas Klie vom Freiburger Institut AGP Sozialforschung klar. Es werde unter den gegenwärtigen Ansprüchen nicht einmal für den Erhalt der vorhandenen Einrichtungs-Kapazitäten reichen.

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Auch Einzelmaßnahmen - wie zum Beispiel eine temporäre Erhöhung der Zahl von Auszubildenden in der Pflege oder auch "eine etwas bessere Bezahlung der beruflich Pflegenden" könnten diesen Abbau-Prozess voraussichtlich nicht aufhalten. "Sie können ihn in der Dynamik nur verändern", lautet die Bilanz der beiden Wissenschaftler. Der bayerische Arbeitsmarkt in der Pflege könne bereits jetzt als "leer gefegt" beschrieben werden, heißt es in der Studie. In der Folge bleiben viele offene Stellen unbesetzt. Das habe sich bei einer Befragung der Einrichtungen bestätigt. "Es betrifft alle Regionen in Bayern, es kann keiner sagen, bei uns ist alles gut, bei uns ist alles geregelt", betonte Georg Sigl-Lehner.

Obwohl es in allen Regionen Bayerns schwierig ist, offene Pflegestellen wieder zu besetzen, legt die neue Studie zugleich regionale Unterschiede offen. "Wir können aus dem Versorgungsindex herauslesen, dass sich wohl im ostbayerischen Raum - sprich im Bayerischen Wald - eine große Lücke auftut", sagte Sigl-Lehner. Zudem bestätige sich, dass sich in Ballungsräumen mehr Pflegeausbildungsstätten finden als im ländlichen Raum. Und freilich wirke sich so etwas positiv auf die Zahl der regional vorhandenen Pflegekräfte aus.

Doch auch der Großraum München ist vor erhebliche Herausforderungen gestellt. "Hier sind die größten demografischen Entwicklungen zu beobachten", heißt es in der Studie. Und in diesem Zusammenhang helfe es diesem urbanen Planungsraum nichts, dass er über mehr Pflegeausbildungsplätze verfügt als ländliche Gebiete: Die Zahl der absehbar zu pflegenden Menschen in und um München sei so hoch, dass die Ausbildungsstätten gar nicht hinter dem Bedarf hinterherkommen.

77 Prozent werden daheim gepflegt

Die Verfasser der Studie wollten indes noch tiefer in die Materie eindringen und stießen dabei auf einen Faktor, der ebenfalls einen großen Einfluss auf den aktuellen und künftigen Pflegebedarf hat: die Milieus, beziehungsweise die soziale Prägung in der jeweiligen Region. Hier geht es insbesondere darum, in welchem Maße sich die Angehörigen um ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder oder Partner kümmern, beziehungsweise kümmern können. Von den im Jahr 2019 insgesamt 491 996 Pflegebedürftigen in Bayern wurden laut Studie 77 Prozent - also 376 430 Personen - zu Hause gepflegt. "Langzeitpflege ist in Deutschland eine Angelegenheit der Familien", erklärte Thomas Klie vom Freiburger Institut AGP Sozialforschung.

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Das hat auch Auswirkungen auf die Heimangebote. "Es gibt Regionen, in denen sich kaum Pflegeheime finden, zum Beispiel im Raum Miltenberg oder im Raum Freyung-Grafenau", hieß es am Mittwoch. Im Raum Landshut oder Regensburg wiederum sei die Heimversorgungsquote sehr hoch. "Wenn jemand in ein Heim geht, dann hat das keinen gesundheitlichen, sondern einen sozialen Hintergrund", so Klies Schlussfolgerung. Für zukünftige Berechnungen spielt aber auch diese Erkenntnis eine entscheidende Rolle: Bislang nehmen weniger als 30 Prozent derjenigen, die ihre Angehörigen zu Hause betreuen, einen professionellen Pflegedienst in Anspruch. Sollte sich das ändern, so vergrößere das den Personalmangel in der betreffenden Region erheblich. "Und da geht es dann um die Versorgungssicherheit", machte VdPB-Präsident Georg Sigl-Lehner deutlich.

Was Sigl-Lehner und die Wissenschaftler aus Freiburg und aus Köln gleichermaßen beunruhigt: "Was wissen wir denn über den konkreten Pflegebedarf in den Kommunen?" Diese Frage beantworten sie so: "Das ist ein blinder Fleck, wir haben keine Ahnung." Entsprechend dünn ist auch noch das Lösungsangebot, das die Forscher aus ihrer brillanten Datenanalyse ableiten konnten. Die Antworten könnten nur regional gefunden werden, ist sich Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung gewiss. Vorschläge über mögliche Vorgehensweisen in Form einer "Handlungsmatrix" seien den Akteuren auf regionaler Ebene aber an die Hand gegeben worden. Darüber müsse man nun gemeinsam diskutieren. "Ideen haben die dazu", sagte Isfort. Es gelte also, die aktive Rolle der Kommunen zu betonen - so etwa in der Langzeitpflege.

"Wir brauchen eine intensive kritische Auseinandersetzung mit der Versorgungsrealität und eine mutige und kreative Neugestaltung der Gesundheitsversorgung", fordert VdPB-Präsident Sigl-Lehner. Geht es nach den Wissenschaftlern Isfort und Klie, so müssten einige dieser Veränderungen geradezu ein revolutionäres Ausmaß annehmen - etwa, was überkommene Hierarchien in Krankenhäusern oder bei manchen Einrichtungsträgern betrifft. Aber mehr noch: "Wir plädieren für Versorgungsallianzen in der Pflege", sagte Isfort. Es gehe nicht mehr an, dass Träger wie AWO oder Caritas in Konkurrenz treten. "Die Zeiten sind vorbei."

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