Klassiker der Literatur:Das Geheimnis des Kaspar Hauser

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Eine Radierung im Markgrafen-Museum in Ansbach zeigt Kaspar Hauser bei seinem Auftauchen in Nürnberg im Jahr 1828. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Wer war der rätselhafte, verwahrloste Junge, der einst in Nürnberg auftauchte? Jakob Wassermann hat vor 100 Jahren seinen Roman "Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens" Europas berühmtestem Findelkind gewidmet - ein Klassiker.

Von Florian Welle

In Ansbach begegnet man Kaspar Hauser auf Schritt und Tritt. Im Hofgarten, wo am 14. Dezember 1833 jene Messerattacke stattfand, an der Europas bekanntester Findling wenige Tage später starb, steht ein Gedenkstein mit lateinischer Inschrift. Übersetzt lautet sie: "Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Weise getötet."

Im Markgrafenmuseum in der Innenstadt gibt es eine Kaspar-Hauser-Abteilung. Die dort ausgestellte, blutbefleckte Unterhose ließ Der Spiegel 1996 untersuchen. Mit dem vermeintlichen Ergebnis, dass Hauser keinesfalls ein badischer Prinz gewesen sein kann. Doch stammen Kleidungsstück und Blut überhaupt von ihm? Schließlich sein Grabstein auf dem Stadtfriedhof: "Hier ruht Kaspar Hauser, ein Rätsel seiner Zeit, unbekannt die Geburt, geheimnisvoll der Tod."

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Kaspar Hausers Herkunft und sein gewaltsames Ende geben noch heute Anlass zu allerhand Spekulationen zwischen Erbprinzen- und Betrugstheorie. Darüber ist der historische Hauser, der am Pfingstmontag des Jahres 1828 im Alter von etwa sechzehn Jahren in verwahrloster bäuerlicher Tracht auf dem Nürnberger Unschlittplatz auftauchte und wankend und stammelnd Passanten ansprach, zu einem Mythos geworden.

Sein geheimnisumwittertes Schicksal hat zahlreiche Spuren in Kunst und Literatur hinterlassen. Der aus dem Nichts aufgetauchte Jüngling scheint nämlich die ideale Projektionsfläche zu sein, um eigene Sehnsüchte und Problemlagen zu thematisieren. So dichtete der an sich selbst verzweifelnde Georg Trakl in seinem "Kaspar Hauser Lied" folgende Zeile: "Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:/O Mensch!"

Kafka wiederum notierte im Juli 1917 in sein Tagebuch den Anfang einer Geschichte: "Als Kaspar Hauser soweit aufgewacht war, dass er Menschen und Dinge um sich erkannte ..." Die Reihe ließe sich fortsetzen mit Peter Handkes "Kaspar", einem Stück, das als "Sprechfolterung" verstanden sein will und nicht zeigt, wie es wirklich war, sondern "was möglich ist mit jemandem". Oder mit Werner Herzogs Film "Jeder für sich und Gott gegen alle".

Kaspar Hauser und sein kleines Holzpferd: Szene aus Werner Herzogs Film "Jeder für sich und Gott gegen alle" aus dem Jahr 1974. (Foto: imago images/Collection Kharbine Tapabor)

Wer von Kaspar Hauser erzählt, erzählt immer auch über sich selbst. Dies gilt in besonderem Maße für jenes Werk, das wohl als die schönste Bearbeitung des Mythos gelten kann: Jakob Wassermanns 1908 erschienener Roman "Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens". Darin schildert Wassermann spannungsreich den Kriminalfall Hauser. Vor allem aber erzählt er in einer bewusst altertümlich gehaltenen Sprache auf eine sehr anrührende Art, wie ein Mensch, der die Unschuld in Person ist, von der Unbarmherzigkeit und Gefühlskälte seiner Umgebung zugrunde gerichtet wird.

Thomas Kraft, Autor einer Wassermann-Biografie und Verfasser des Nachworts der dtv-Ausgabe, zitiert Wassermann mit den Worten: "Das Menschenherz gegen die Welt; als ich diese Formel gefunden hatte, hoben sich die Schleier ..." Was Wassermann damit meinte, wird gleich auf den ersten Seiten des mit viel fränkischem Lokalkolorit angereicherten Buchs deutlich. Dort wird Hauser, den die Behörden zunächst in den Gefängnisturm der Nürnberger Burg sperren ließen, von der Menge wie eine Zirkusattraktion begafft: "Aber da der schweigsame, sanftherzige Knabe nichts von alledem tat, was sie in ihrer lüsternen Erwartung sich eingebildet, so begannen sie entweder zu schimpfen, als ob sie Eintrittsgeld bezahlt hätten, und darum betrogen worden wären, oder sie stellten die erstaunlichsten Torheiten an."

Der Moralist Wassermann beschreibt in all seinen Werken das Leid von Menschen, die im Abseits stehen. Als man Hugo von Hofmannsthal einmal fragte, wer ein guter Mensch sei, gab dieser zur Antwort: "Der Jakob. Der Jakob ist ein guter Mensch." Jakob Wassermann kam 1873 in Fürth als Sohn eines jüdischen Kurzwarenhändlers zur Welt. Als er neun Jahre alt war, stirbt seine Mutter, fortan hat der sensible Junge einen strengen Vater und eine verhasste Stiefmutter gegen sich. Mit sechzehn Jahren, also genau in dem Alter, in dem Kaspar Hauser auftauchte, ist er bereits ganz auf sich allein gestellt und wäre der Welt wohl abhandengekommen, wenn ihn nicht nach Jahren des Herumirrens Ernst von Wolzogen in München zu seinem Sekretär gemacht hätte.

Durch Wassermanns Leben ging ein Riss

Dieser ermutigte ihn zum Schreiben, und Wassermann ergriff seine Chance, zog nach Wien und später nach Altaussee und wurde zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit. Doch auch der immense Erfolg konnte nicht jenen Riss heilen, der ihn zeitlebens plagte und für den er in seinem Lebensbericht "Mein Weg als Deutscher und Jude" von 1921 eindrückliche Worte fand: "Die Juden, die Deutschen, diese Trennung der Begriffe wollte mir nicht in den Sinn, nicht aus dem Sinn."

Wassermann, dem es nie vergönnt war, gleichermaßen als Jude und als Deutscher zu leben, musste noch die Verbrennung seiner Bücher durch die Nazis ertragen. Sechzigjährig starb er am Neujahrsmorgen 1934 in Altaussee. Rund hundert Jahre nach Kaspar Hauser, dessen Tragödie ihn zu einem seiner wichtigsten Bücher neben "Die Juden von Zirndorf", "Das Gänsemännchen" und "Der Fall Maurizius" inspiriert hat. Es endet mit den Worten: "Unschuldig, meine Beste, unschuldig ist nur Gott."

Jakob Wassermann, Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens. dtv, München 2012. 480 Seiten, 12,90 Euro.

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