Es sind komplizierte Begriffe, die die drei Gutachter in diesem Prozess am Amtsgericht Augsburg hin und her wälzen: Kompensationswachstum, Vitalitätseinbruch, Wurzeleinlauf. Es geht auch um den besonders gefährlichen, weil Holz zersetzenden und schwer zu erkennenden Brandkrustenpilz. Am Ende aber, so sagt es die Richterin, steht die große Frage: War es für den angeklagten Baumkontrolleur erkennbar, wie es in dem Baum aussah, der an einem Spielplatz in Augsburg umgefallen ist und ein kleines Mädchen tötete, das gerade mit seiner Mutter auf einer Wippe schaukelte?
Die Gutachter sind unterschiedlicher Ansicht, was für den Verteidiger des Angeklagten Grund genug war, Einspruch gegen einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung einzulegen. Der daraus folgende Prozess stand nun bundesweit unter Beobachtung von Kommunen und Baumexperten, denn es galt auch diese, kaum eindeutig zu beantwortende Frage zu beleuchten: Wann gelten Bäume als umsturzgefährdet, wann müssen sie vorsichtshalber gefällt werden?
Es war ein Vormittag im Juli 2021, als sich eine Mutter mit ihren beiden Töchtern auf dem Spielplatz befand. Gegen 10.45 Uhr stürzte der 23 Meter hohe und mächtige Ahornbaum auf die 13 Meter entfernte Wippe und begrub das 20 Monate alte Mädchen sowie ihre Mutter unter sich. Die ältere Tochter musste alles mitansehen. Das Kleinkind starb am Abend in der Uniklinik an seinen Verletzungen, die Mutter erlitt Quetschungen am Bein, ein gebrochenes Schulterblatt und Schlüsselbein.
Es sei seinem Mandanten ein großes Anliegen, der Familie sein aufrichtiges Beileid auszusprechen, sagt der Verteidiger des Baumkontrolleurs zu Beginn der Verhandlung. Der 58-Jährige ist seit dem Unfall dienstunfähig und in psychotherapeutischer Behandlung, er will deshalb selbst nichts sagen und im Prozess auch keine Rückfragen beantworten. Nur so viel, in den Worten seines Verteidigers: Im Mai 2020 hatte er den Baum zuletzt begutachtet. Wie bei allen zuvor erfolgten Regelkontrollen habe es keine Anhaltspunkte gegeben, dass die Stand- oder Verkehrssicherheit beeinträchtigt sei - auch nicht, nachdem er den Stamm mit einem Schonhammer abgeklopft hatte. Am Klang können Experten bewerten, ob der Baum innen hohl und eventuell von Fäulnis betroffen ist. Ein Fruchtkörper des Brandkrustenpilzes sei bei der Kontrolle nicht zu erkennen gewesen.
In diesem Punkt stimmt der vom Gericht bestellte Sachverständige dem Angeklagten zu. Der Pilzbefall sei klein und kaum zu erkennen gewesen, aber darum geht es aus seiner Sicht gar nicht. Am Baum seien einige andere verdächtige Merkmale erkennbar gewesen sein, die auch der Kontrolleur hätte sehen und deshalb weitere Untersuchungen in die Wege leiten müssen. Vor allem sei der Baum so auffällig schräg gewachsen, in einem Winkel von 45 Grad, dass er der Blickfang auf dem gesamten Spielplatz gewesen sei. Nun reagiert ein Baum, so erläutern es die Gutachter, auf Probleme mit einem sogenannten Kompensationswachstum. Er versucht sich also selbst zu reparieren, indem er etwa sein Wachstum an einer Stelle verstärkt, um eine schadhafte Stelle auszugleichen. Wenn man aber nicht weiß, ob die Kompensation reicht, so der Sachverständige, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Baum fällen oder weitere Untersuchungen veranlassen.
"Ein Baumkontrolleur steht aber unter hohem Stress, weil es öffentlich schnell kritisiert wird, einen Baum zu fällen." Bei diesem Baum hätten jedoch die Zweifel so groß sein müssen, dass der Kontrolleur wenigstens eine Messung mittels Bohren hätte veranlassen müssen. So wäre, da ist sich der Sachverständige sicher, in jedem Fall klar geworden, dass der Baum entnommen werden muss. Es ist diese Argumentation, die dem zuständigen Kontrolleur den Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung eingebrockt hat. Wobei die Staatsanwaltschaft offenbar dennoch eine geringe Schuld des Mannes erkannte: Der Strafbefehl sah lediglich eine Geldstrafe vor, ausgesetzt zur Bewährung.
"Man kommt an die Grenzen der Zumutbarkeit für Kommunen"
Es ist aber auch diese Argumentation, die die beiden anderen Sachverständigen, von der Kriminalpolizei und der Verteidigung beauftragt, nicht teilen. Sie legen ihrer Expertise die sogenannte Baumkontrollrichtlinie zugrunde, die für Augsburger Baumkontrolleure sogar als Dienstanweisung gilt. Demnach seien Auffälligkeiten am Baum unstreitig, sie bedeuteten aber nicht automatisch, dass Gefahr bestand. Würden solche Auffälligkeiten zwingend eingehendere Untersuchungen nach sich ziehen, wären auf einen Schlag Hunderte Bäume betroffen. "Man kommt an die Grenzen der Zumutbarkeit für Kommunen."
Wegen der Vielzahl zu kontrollierender Bäume bleibe immer ein Restrisiko. Ein jahrelanger Schrägstand, von der Regel abweichende Merkmale an Wurzeln oder Stamm könnten ja auch bedeuten, dass die durch den Baum veranlassten Kompensationen wirken. Insofern würde vor allem der Pilzbefall einen entscheidenden Unterschied in der Bewertung der Kontrolle machen - der ja aber, da sind sich alle einig, für den 58-Jährigen nicht zu erkennen war.
Dieser Argumentation folgen am Ende auch Gericht und Staatsanwalt, der "im Zweifel für den Angeklagten" ebenfalls einen Freispruch fordert. Die Nebenklagevertreterin, die die Familie des getöteten Mädchens vertritt, stellt explizit keinen Antrag: "Nichts kann die Tochter zurückbringen."
Wann gelten also Bäume als umsturzgefährdet? Das kann pauschal nicht beantwortet werden. In der Gesamtabwägung dieses Falls habe der Kontrolleur seine Arbeit korrekt geleistet, sagt die Richterin. Um einen Schaden und damit Gefahr zu erkennen, hätte man in den Baum hineinschauen müssen. Der Bogen bei Regelkontrollen dürfe aber nicht überspannt werden. Allerdings gibt sie der Stadt und damit auch anderen Kommunen indirekt einen Denkanstoß mit auf den Weg: Ob es grundsätzlich angezeigt ist, einen solch schrägstehenden Baum auf Spielplätzen prophylaktisch zu entfernen, habe nicht in der Entscheidungsgewalt des Baumkontrolleurs gelegen.