Übergewicht:"Corona hat dieses Problem nochmal verschärft"

Lesezeit: 3 min

Annika Lechner bietet mit "Kids Force", das sie jetzt in Fürth eröffnet hat, ein Coaching-Programm für Kinder und Jugendliche mit Übergewicht an. (Foto: Silke Schreier)

Jugendliche mit Adipositas können in einem Fürther 400-Quadratmeter-Loft zu einem gesünderen Leben finden. Doch es gibt noch Hürden für die "Therapie", die sich so gar nicht nennen darf.

Von Max Weinhold, Fürth

Das Training beginnt schon im Treppenhaus, steile Stufen führen in den dritten Stock. Steil besonders für diejenigen, die sie erklimmen sollen: junge Menschen mit Übergewicht. Denn die Stufen führen zu "Kids Force", einem Coaching-Programm für Kinder und Jugendliche mit Adipositas in Fürth.

"There Is No Elevator To Success, You Have To Take The Stairs", steht auf dem letzten Stück Treppe: Es gibt keinen Fahrstuhl zum Erfolg, Du musst die Stufen nehmen. Hat man das getan, stellt sich heraus: Es gibt doch einen Fahrstuhl. "Aber ich kann ja nicht von den Kindern verlangen, bei uns Sport zu machen, und sie dann alle im Aufzug hochfahren lassen", erklärt Geschäftsführerin und Gründerin Annika Lechner.

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Selbst Fürths Bürgermeister Markus Braun (SPD) und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), die am Samstag zur Eröffnung von "Kids Force" gekommen sind, müssen laufen, da gibt's keine Ausnahmen. Aus "Neugierde" und "Respekt" sei er da, sagt Herrmann. Letzteres, weil die 31-jährige Lechner den "Mut" besitze, ihre Vision zu verwirklichen. Und Neugierde, weil er wissen wollte, wie diese Vision, von der ihm eine gemeinsame Bekannte berichtet hatte, denn nun genau aussieht.

In Kurzform so: In einem 400-Quadratmeter-Loft, das von der taubenblauen Kücheninsel bis zu ledernen Turnhallen-Sprungkästen bis ins letzte Detail designt ist, hat Lechner alles vereint, was es aus ihrer Sicht braucht, um mit den Kindern "durch dick und dünn zu gehen", wie das Motto lautet. Oder in diesem Fall: von dick nach dünn.

Sie will bei jedem Kind die Faktoren für das Übergewicht ergründen. Und davon gibt es viele: genetische Veranlagungen, Bewegungsmangel, schlechte Ernährung, das soziale Umfeld. Lechner bringt psychologische Betreuung mit Sportkursen, gemeinsamem Kochen, Ernährungsberatung und Hausaufgaben-Hilfe zusammen. Sogar Medienschulung erhalten die Kinder mit der Frage: Was ist echt in sozialen Medien - und was nicht? Nicht unwichtig beim Kennenlernen und Akzeptieren des eigenen Körpers beim Heranwachsen. "Wir machen nichts anderes als eine ambulante Therapie", sagt Lechner, "nur bezeichnen dürfen wir es so nicht."

Innenminister Joachim Herrmann verweist beim Besuch auf den Bedarf solcher Angebote

Innenminister Herrmann verweist auf den Bedarf solcher Angebote. Laut der letzten repräsentativen Untersuchung des Robert-Koch-Instituts von 2017 war etwa jedes sechste Kind in Deutschland übergewichtig oder adipös. Aktuelle Vergleichswerte liegen nicht vor, aber Hermann sagt: "Corona hat dieses Problem nochmal verschärft."

Bürgermeister Braun befindet: "Dieses Angebot ist genau das, was unserer Bedarfssituation entspricht." Er sagt aber auch: "Vielleicht sind sie mit ihrem Konzept ein bisschen der Zeit voraus." Und meint damit: "Vielleicht erkennen die Krankenkassen noch nicht, wie wichtig und wertvoll so eine Herangehensweise ist."

Anders gesagt: "Kids Force" ist keine Kassenleistung. "Wir haben in Deutschland die Problematik, dass Übergewicht an sich nicht als Krankheit zählt", sagt Lechner. Bezahlt würde etwa Prävention für gesunde, nicht-übergewichtige Kinder. Oder die Therapie bei denjenigen, die schon Folgeerkrankungen entwickelt haben. "Aber alles dazwischen, wo es meiner Meinung nach total wichtig ist, anzusetzen, da sagen die Krankenkasse: Da sind wir raus."

Wer bei "Kids Force" also zu einem gesünderen Leben finden will, der braucht Eltern mit genügend Geld. Das weiß auch Lechner, wenngleich sie darüber nicht eben glücklich ist. "Das war für mich eine ganz schwierige Entscheidung", sagt sie mit Blick auf die Frage, vor der sie stand: Ihren Traum verwerfen und das Projekt aufgeben, weil es sich mit einem für alle Familien bezahlbaren Preis nicht trüge? Oder den Teil-Ausschluss hinnehmen und zumindest manchen helfen?

Wie sich nun zum günstigsten Tarif von 6,40 Euro in der Stunde sehen lässt, fiel die Wahl auf Letzteres. In Planung ist laut Lechner zudem ein spendenbasierter Förderverein, damit auch Kinder kommen können, deren Familien sich "Kids Force" nicht leisten können. Dieser nächste Schritt ist deshalb so wichtig, weil Kinder und Jugendliche mit ärmeren Eltern statistisch betrachtet häufiger adipös sind.

Platz haben Lechner und ihr Team zunächst für 100 Kinder, die je nach Abo-Modell unterschiedlich oft kommen können in der Woche. Nur zwei Voraussetzungen müssen sie erfüllen: zwischen acht und 18 Jahren alt sein. Und übergewichtig. "So können sich die Kinder nicht untereinander mobben", sagt Lechner. "Und sie merken: Wir haben hier einen geschützten Raum. Hier sind wir alle gleich."

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