Wenn es den Pfarrer Paul Fronmüller nicht gegeben hätte, so wäre Fürth heute vermutlich ein hübscher Stadtteil von Nürnberg. Gemeinsam wäre man die sechstgrößte Stadt der Republik, beinahe auf Augenhöhe mit Frankfurt. Und etwa dort, wo heute eine Kläranlage zwischen Fürth und Nürnberg für sauberes Wasser sorgt, würde Oberbürgermeister Marcus König dieser Tage in einem spätgründerzeitlichen Rathaus die Jubiläumsfeierlichkeiten anlässlich der Vereinigung Nürnbergs mit der Westvorstadt Fürth in die Wege leiten. Wobei: Wäre König dann überhaupt Rathauschef? Fürth ist rot, richtig rot. Mit den Stimmen aus Fürth hätte der CSU-Mann bei der Kommunalwahl 2020 vermutlich in die Röhre geschaut - und ein Sozialdemokrat wäre heute Oberbürgermeister.
Wie ein Mann - und seine Helferinnen und Helfer - ins Räderwerk der Geschichte einzugreifen vermag, ließe sich am Fall des Oberkirchenrates Paul Adolf Theodor Fronmüller schön exemplifizieren. Was man nämlich gerne mal vergisst, wenn über die angeblich jahrhundertealte Rivalität zwischen den beiden größten und grundverschiedenen Städten Mittelfrankens philosophiert wird: Fürths Stadtrat hatte im Dezember 1921 bereits das Ende der eigenen Stadt beschlossen - jedenfalls als eigenständige Kommune.
Etwa 20 Stunden lang hatten die Räte sich die Köpfe zerbrochen, um schließlich mit eindeutiger Mehrheit einen Vorschlag Nürnberger Provenienz zu beschließen. Aus den beiden Kontrahenten sollte ähnlich wie später in Hamburg und Altona eine fränkische Großgemeinde entstehen: mit dem erfrischend gerechten Langnamen Nürnberg-Fürth - und fiktivem neuen Zentrum auf halber Wegstrecke dazwischen. Ungefähr dort, wo heute die Kläranlage ist.

Rein größenmäßig wäre man damit zur Landeshauptstadt München herangerückt. Das aber war wohl nicht der Hauptgrund für den Wunsch nach Zusammenschluss. Fürth beklagte spätestens nach dem Ersten Weltkrieg eine desaströse Haushaltslage und hatte in seiner Not eine nicht ganz neue Idee als Rettungsanker wieder aufgenommen. Mehrmals hatte man sich zuvor schon mit der Idee befasst, nicht jeweils zwei separate Haushalte mit dem Aufbau von Doppelstrukturen zu belasten (vor allem, wenn man große Neubauten plante: Klinikum, Hafen, ein Schlachthaus). 1921 schließlich war es dann so weit: Künftig, so beschlossen es vor allem die linken Kräfte im Fürther Stadtrat, könnte man stattdessen Gemeinsames planen. Zusammen mit der alten Arbeiter- und Industriestadt Nürnberg.
Wäre da nicht Fronmüller gewesen. Als Wortführer des Vereins zur Wahrung der Interessen der Stadt Fürth - kurz "Treu Fürth" - warf sich der studierte Theologe ins Zeug. Nachdem die Räte ihr Votum mit einer Volksabstimmung absichern wollten, schalteten der Stadtpfarrer und die Seinen Zeitungsanzeigen; Flugblätter wurden verteilt, Kampfgedichte gegen den Zusammenschluss geschrieben. Als sich die Fürther im Januar 1922 entscheiden sollten, zogen Pferdefuhrwerke mit klarer Botschaft ihre Runden durch die Stadt: "Wir sind Fürther und wir bleiben Fürther." Die Einwohner der Stadt sahen das offenbar genauso: Knapp 65 Prozent votierten gegen die Einheitsgemeinde, der Stadtrat trat daraufhin geschlossen zurück.

Würde es heute eine solche Abstimmung geben, so würden sich "90 Prozent" gegen eine Einheitskommune mit Nürnberg aussprechen, vermutet Fürths Oberbürgermeister Thomas Jung. Was Nicht-Franken verblüffen mag: Schwabach ist an seinem Nordrand mit Nürnberg zusammengewachsen, Nürnberg an seinem Westrand mit Fürth, Fürth an seinem Nordrand mit Erlangen. Würden sich alleine diese vier Städte zusammentun, so würde die entstehende Kommune größenmäßig in einer völlig anderen Liga spielen - als fünfgrößte deutsche Kommune käme man gleich hinter den Millionenstädten Berlin, Hamburg, München und Köln. Von "fränkischer Provinz" dürfte mit einem (rein verwaltungsmäßigen) Federstrich also kaum noch die Rede sein. OB Jung hält den Gedanken trotzdem für indiskutabel. "Die vier Einzelstädte sind mehr als die Summe ihrer Teile", ist sich der Sozialdemokrat sicher. Und für die - längst mit einer U-Bahn verbundenen - Städte Fürth und Nürnberg gelte das eben genauso.
Dem entsprechend feiert Fürth das Jubiläum "Hundert Jahre Volksabstimmung" mit einer Sonderausstellung im Stadtmuseum. Deren Titel ist etwas sperrig, dafür diplomatisch: "Fürth und Nürnberg - 100 Jahre gescheiterte Vereinigung - 100 Jahre gemeinsame Geschichte". Man wolle, erklärt Jung, 1922 in Fürth keinesfalls ein "Anti-Nürnberg-Jahr" begehen. Was früher womöglich anders gewesen wäre, wie der OB einräumt. Vor nicht allzu langer Zeit hätte man eine "neue Universität wohl lieber Leipzig als Nürnberg" gegönnt, erzählt er. Aber diese Zeiten seien vorbei, mehrheitlich zumindest. Spätestens seit beide Städte Teil einer "Metropolregion" sind, besinne man sich auf gemeinsame Interessen. Und versuche, "großherzig" zu sein.

In der Sonderausstellung (zu sehen bis zum 11. September 2022) kann man das schön beobachten. Die erste Abteilung kulminiert im Siegeszug des Pfarrers Fronmüller gegen den Verlust städtischer Identität. Die zweite Abteilung - der ersten optisch gegenübergestellt - beschäftigt sich dementgegen mit den real existierenden Verbindungen zwischen den beiden Städten, zu Wasser, am Boden und im Untergrund. 1967 hatte der Fürther Stadtrat den Beschluss gefasst, die Nürnberger U-Bahn zur Fürther Stadtgrenze fortzuführen - und galt seither als kleinste deutsche Großstadt mit eigener U-Bahn. Ohne Nürnberg gäbe es die natürlich nicht.

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Ohne die Abstimmung gegen die Vereinigung wiederum gäbe es Fürth wohl nicht mehr. Denn ob sich der Fusionsname Nürnberg-Fürth angesichts der realen Größenverhältnisse lange gehalten hätte, darf zumindest als fraglich gelten. Wohl eher wäre das deutlich kleinere Fürth ohne Aktivisten wie Fronmüller heute in etwa so wie Zerzabelshof: ein beliebter Nürnberger Stadtteil, nur eben im Westen.
Eine wirkliche Ikone ist Pfarrer Fronmüller übrigens nicht geworden in Fürth, ihn kennen eher Spezialisten. Was mit seiner nicht ausschließlich rühmlichen Vergangenheit zu tun haben dürfte: Populismus soll ihm nicht fremd gewesen sein, auch antisemitistische Äußerungen werden ihm nachgesagt. "Treu Fürth" wiederum machte aus einer Grundsympathie mit dem NS-Regime keinen Hehl, 1939 löste sich der Verein erstmals auf. Nach dem Krieg wurde er zwar kurz wiederbelebt. Eine Zukunft aber hatte er nicht.