Unfallsachverständiger:Spurensuche nach dem Crash

Lesezeit: 4 min

Nach einem Unfall stehen selbst Fachleute oft vor Rätseln. Unfallsachverständige wie Andreas Stirner versuchen, sie zu lösen. (Foto: dpa)

Nach Verkehrsunfällen sucht Andreas Stirner mit kriminalistischem Spürsinn Antworten auf viele Fragen. Doch die moderne Technik der Autos erschwert dem Sachverständigen die Arbeit zusehends.

Von Marco Völklein

Das ganze Leid, die Tragik, die menschlichen Katastrophen, die hinter so einem Crash stehen - all das, sagt Andreas Stirner, blendet er aus, wenn er an eine Unfallstelle kommt. "Anders kann man das auch gar nicht machen." Dann steht nur eine Frage im Vordergrund: Was ist passiert? Stirner fertigt eine Skizze vom Unfallort an, sucht und vermisst die Spuren, macht Fotos. Er funktioniert. "Das Nachdenken darüber, was da alles dranhängt", sagt Stirner, "das kommt oft erst hinterher." Wenn er im Auto sitzt und zurückfährt. Insbesondere wenn Kinder beteiligt sind, dann setze ihm das Leid immer wieder zu. "Das trägt man dann noch eine ganze Weile mit sich herum."

Andreas Stirner kriegt viel mit von dem, was so passiert auf den Straßen. Als Unfallsachverständiger in Coburg wird er in der Regel von Staatsanwälten eingeschaltet, wenn Tote zu beklagen oder zu erwarten sind, oder Menschen schwer verletzt wurden. In großen Städten hat die Polizei oft Fachleute dafür; vielerorts klären aber auch selbstständige Analytiker wie Stirner auf, was passiert ist. Sie lösen die Rätsel, die sich aus Unfällen ergeben - und gehen dabei ein bisschen wie Detektive vor.

Öffentlicher Nahverkehr
:Der Wegräumer

Verkehrsmeister Tobias Hauser aus Leipzig macht den Weg frei für Bus und Bahn - wenn's sein muss, auch mit Psycho-Taktik.

Von Marco Völklein

So versucht Stirner zunächst einmal herauszufinden, an welcher Stelle der Straße genau beispielsweise zwei Autos zusammengekracht sind. "Daraus lässt sich meist alles weitere rekonstruieren", sagt der Gutachter. Bei einem schweren Unfall wirken immense Kräfte - und die hinterlassen in der Regel Spuren auf dem Asphalt. Oft verformen sich schwere Teile an den Autos: Längsträger werden beispielsweise so deformiert, dass sie Schlagmarken hinterlassen, also tiefe Rillen, deutliche Kratzer. Ist die Straße mit Glassplittern übersät, ist meist dort, wo die kleinsten und feinsten Partikel liegen, auch die Anstoßstelle auszumachen. Und so grausam es klingt: Wird ein Mensch etwa von einem Lkw mitgeschleift, zeugen Blut- oder Fettschlieren davon. Andreas Stirner verfolgt all diese Spuren auf der Straße, markiert sie mit Farbkreide oder einem Sprühstoß aus seiner Spraydose, dokumentiert sie mit Fotos und in einer Unfallskizze.

Der 55-Jährige ist gelernter Kfz-Mechaniker. Bei Audi hat er in der Entwicklung gearbeitet, ehe er sich in den Achtzigerjahren an der Fachhochschule zum Prüfingenieur sowie zum von der IHK bestellten Kfz-Gutachter und zum Unfallanalytiker fortgebildet hat. "Ich hatte schon immer Benzin im Blut", sagt Stirner. An der Unfallstelle achtet er darauf, dass die Spuren nicht verwischt werden.

Rettungskräfte verwischen die Spuren

Das aber ist gar nicht so leicht. Oft kümmern sich Rettungskräfte und Helfer der Feuerwehr um Verletzte. Das hat klar Vorrang. "Schlecht ist nur, wenn danach gleich Helfer anrücken und die Straße fegen", berichtet Stirner. Er habe auch schon mal die Feuerwehr gebeten, das bereits verstreute Ölbindemittel vorsichtig wieder abzutragen. "Ganz langsam, Schicht für Schicht." Darunter hatte er wichtige Spuren vermutet.

Bundesweit starben im vergangenen Jahr nach einer Prognose des ADAC etwa 3280 Menschen - fünf Prozent weniger als 2015. Noch sind die Behörden damit beschäftigt, die Zahlen zu sammeln und die Statistiken zusammenzuführen, deshalb liegen nur Schätzdaten vor. Die meisten Fachleute bestätigen den vom ADAC erwarteten Rückgang bei der Anzahl der im Straßenverkehr Getöteten, zugleich erwarten sie aber einen leichten Anstieg bei den Verletzten um 0,5 bis ein Prozent auf knapp 400 000. Die Zahl aller Unfälle wird laut ADAC voraussichtlich um 2,1 Prozent auf 2,57 Millionen klettern.

Unfallforscher wie Dieter Müller von der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/Oberlausitz kritisieren, dass Bund und Länder sich zu wenig anstrengen, um die Zahlen drastisch zu senken. Das 2011 ausgerufene Ziel, die Zahl der Verkehrsunfalltoten bis zum Jahr 2020 - verglichen mit dem Jahr 2010 - um 40 Prozent auf 2400 zu senken, dieses Ziel werde die Bundesregierung "grandios verfehlen", glaubt Professor Müller.

Unfallgutachtern wie Andreas Stirner dürfte also die Arbeit so schnell nicht ausgehen. Hat er an der Unfallstelle alle Spuren dokumentiert, nimmt er sich in einer Halle die Fahrzeuge vor. Auch wenn die bei schweren Crashs oft nur noch ein wüstes Blechknäuel sind, kann Stirner dort Spuren erkennen. Hatten die Insassen die Sicherheitsgurte angelegt? Auch da hilft die Physik weiter: Muss der Gurt eine Person bei einem Aufprall halten, entstehen ebenfalls große Kräfte - so groß, dass das Gurtband an manchen Stellen einschmilzt und sich verformt. Stirner dokumentiert auch solche Spuren. Zudem muss er technische Fragen klären: Hat das Licht funktioniert? War die Bremsanlage vielleicht defekt?

Am Computer fügt der Gutachter schließlich alle Spuren zusammen. Wie bei einem Puzzle entsteht nach und nach ein Gesamtbild. So sind in einer Datenbank die Steifigkeitswerte für fast alle Fahrzeugtypen hinterlegt. Im Rechner kann er so die Autos immer wieder ineinanderkrachen lassen; mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mal eher näher an der Beifahrertür, mal näher am Kotflügel. Schritt für Schritt, Stück für Stück tastet er sich so ans Unfallgeschehen heran. Zwei bis drei Tage sitzt er an einem Fall, bei Massenkarambolagen auch mal länger.

Nicht jeder Unfall lässt sich rekonstruieren

Oft arbeitet der Gutachter auch mit Ermittlern der Polizei zusammen, mitunter auch mit der Rechtsmedizin. Im April 2016 beispielsweise wird Stirner zu einem Unfall auf einer Landstraße bei Kronach in Oberfranken gerufen. Eine Renault-Fahrerin ist gegen einen VW Golf gekracht, auf schnurgerader Strecke, kurz hinter einer Kuppe. Stirner kann anhand der Schlagmarken auf der Straße zeigen, dass die Renault-Lenkerin auf die Gegenfahrbahn gekommen ist. Aber warum? Stirner untersucht beide Autos, rekonstruiert den Sonnenstand. Hatte vielleicht der Himmelskörper geblendet? Polizisten sichern schließlich das Handy der Renault-Fahrerin - und sehen anhand der Daten, dass die Frau zur Zeit des Unfalls gerade damit beschäftigt war, eine SMS abzusetzen.

Wichtig ist aber: "Das alles sind Näherungswerte", räumt Stirner ein. Ganz exakt, zu 100 Prozent, lasse sich ein Unfall nie rekonstruieren. Und kam es schon mal vor, dass er ein Geschehen gar nicht nachvollziehen konnte? "Klar", sagt Stirner. Auch Gutachter stoßen an ihre Grenzen. "Dann lege ich das klar und transparent offen." Ein Gericht müsse dann aufgrund anderer Erkenntnisse entscheiden.

Inzwischen kommt auch eine Drohne zum Einsatz

Seit zwei Jahren geht Andreas Stirner zudem auch in die Luft. Wenn der Sachverständige für Unfallgutachten einen Unglücksort genau vermessen will, dann lässt er seine fünf Kilogramm schwere Drohne aufsteigen. Vorher schraubt er eine Kamera dran. Fertig. "Die lässt sich da oben verschieben wie an einem Deckenkran", schwärmt er. Über skalierte Bilder lasse sich eine Unfallsituation so exakt darstellen, gerne auch als 3-D-Modell. "Und das Ganze ist weniger fehlerbehaftet."

Doch so sehr die moderne Technik ein Segen ist, so sehr ist sie auch ein Fluch für den Unfallgutachter. Bremsspuren zum Beispiel finde man mittlerweile fast gar keine mehr, weil immer mehr Autos über ABS verfügen. Und bei der Frage, ob ein Autofahrer das Licht eingeschaltet hatte oder nicht, halfen bislang kleinste Schmelztropfen am Glühfaden des Scheinwerfers, die Stirner unter dem Mikroskop erkennen konnte. Bei modernen LED-Leuchten oder Xenon-Scheinwerfern gibt es das nicht mehr. "Da müssen wir uns etwas Neues einfallen lassen", sagt der Spurensucher. Immer öfter gehe er nun dazu über, die Steuergeräte der Autos auszulesen.

© SZ vom 21.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

60 Jahre Radarfalle
:Siegeszug des Blitzers

Abzocke oder wichtiger Beitrag zur Verkehrssicherheit? Seit 60 Jahren gibt es Radarfallen in Deutschland. Städte und Gemeinden verdienen Millionen damit.

Von Thomas Harloff

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: