Radfahren in Brüssel:Den Brüsselern fehlt das Fahrrad-Gen

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Trotz autofreiem Sonntag fährt in Brüssel kaum jemand Fahrrad. (Foto: AFP)

Die meisten Wege mit dem Rad zu erledigen, ist den Bewohnern der belgischen Hauptstadt fremd. Stattdessen enden Radwege an Wänden, Gittern oder Straßenbahnen.

Von Thomas Kirchner

Aus dem Osten Brüssels ins Europaviertel. Zunächst breite, sichere Radwege, bis es dann doppelt dick kommt. Erst der Montgomery-Kreisel, eine Hochrisikozone für Fahrräder, in die sich nur Todesmutige trauen, die Zweikämpfe mit Autos nicht scheuen. (Die anderen nehmen den Fußweg und kommen fünf Minuten später zur Arbeit.) Und dann, kurz vor dem Jubelpark, verengt sich die Straße aus unerfindlichen Gründen, was den Fahrradfahrern nur zwei Möglichkeiten lässt: Entweder warten sie hinter einer langen Autoschlange, oder sie zwängen sich vorbei, auf etwa 50 Zentimetern Breite, mit einer kleinen Bordsteinerhöhung in der Mitte.

Just hier hat die Stadtverwaltung kürzlich eine große und sicher sehr teure elektronische Anzeigetafel aufgestellt. Sie zählt, wie viele Fahrräder täglich passieren. Der Grund erschließt sich nicht. Soll das ein Wir-Gefühl befördern? Die Einsamkeit lindern, die einen als Radfahrer in dieser Stadt so häufig überfällt? Die beiden Zählschwellen sind leicht versetzt, sie überlappen in der Mitte. Wenn man genau dort drüberfährt, wird man doppelt gezählt - ein Spaß, den mancher sich gönnt.

Die Radnutzung steigt auf niedrigem Niveau

Diese absurde Stelle steht für das Radfahren in Brüssel: guter Wille, doch im Detail hapert es stark. Das zeigt sich an den Zahlen. Die Radnutzung steigt, aber auf niedrigem Niveau. Sieben Prozent aller Verkehrsbewegungen finden per Velo statt, und nur zwei Prozent pendeln mit dem Fahrrad zur Arbeit. Zum Teil ist das eine Mentalitätsfrage, die vielleicht Kulturhistoriker beantworten könnten. Den Brüsselern fehlt schlicht das Fahrrad-Gen. In flämischen Städten wie Antwerpen, Löwen oder Gent sind die Zahlen viel höher und reichen schon fast an niederländische Verhältnisse heran, wo der Fahrradverkehr nahezu ein Drittel ausmacht. Die Hügeligkeit der belgischen Hauptstadt und das regnerische Wetter werden als negative Faktoren aufgeführt.

Der eigentliche Grund für die Brüsseler Trägheit ist politischer Art. Die Stadt leidet noch immer an den Folgen der Verkehrsplanung nach dem Zweiten Weltkrieg. Gebaut wurde damals nach dem Motto "alles für das Auto". Von allen Richtungen rauschen die Fahrzeuge seither auf breiten Achsen in die Innenstadt. Wenn überhaupt, bleibt meist nur ein kleiner Streifen am Rand für die Zweiräder, die sich mit Fußgängern noch um den Platz streiten. Die Zahl der echten, durchdachten und sicheren Fahrradwege nimmt zwar zu. Aber allzu oft hören sie noch immer ruckartig auf oder führen, wenn man die Anweisungen ernsthaft befolgt, gegen Wände, Gitter oder Straßenbahnen.

Man kann das Radfahren in Brüssel abenteuerlich finden und sogar genießen, wenn man fit und einigermaßen verwegen ist. Viele schreckt das jedoch eher ab, sie widerstehen den Lockversuchen der unermüdlichen Steig-aufs-Rad-Kampagnen und benutzen selbst zum Baguette-Holen das Auto. Vor allem in den besser situierten Stadtteilen gehört das Auto zum Lebensstil, Menschen auf Fahrrädern wirken dort fast exotisch - noch dazu, weil sie meist neongelbe Warnwesten tragen wie Bruchpiloten auf der Autobahn. Ihre humorvollen Plaketten am Sattel - à la "wieder ein Auto weniger" - zeigen umso mehr, dass sie sich als Einzelkämpfer fühlen.

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Rad gefahren wird nur am autofreien Sonntag

Der Gedanke, dass sich fast alle kurzen und selbst ein paar längere Wege mit dem Fahrrad erledigen ließen, ist den Brüsselern noch immer wesensfremd. Daran scheint auch der jährliche autofreie Sonntag wenig ändern zu können, an dem Tausende glückliche Menschen die Schnellstraßen erobern - um am folgenden Morgen wieder selbst mit dem Dienstwagen in die Arbeit zu rauschen.

Apropos Dienstwagen: Seit Jahren versucht die Regierung vergeblich, das sogenannte "voiture de societé" als steuergünstigen Bestandteil der Entlohnung abzuschaffen oder durch ein Mobilitätsticket zu ersetzen. Hier läge nach allgemeiner Auffassung einer der entscheidenden Hebel, um eine ökologischere Verkehrspolitik in Gang zu setzen. Aber keiner traut sich, ihn konsequent anzusetzen.

Genug genörgelt, preisen wir lieber die velozipedischen Lichtblicke in Brüssel: das Ausleihsystem Villo zum Beispiel. Mehr als 1,5 Millionen Mal wurden die stets tadellos funktionierenden Räder mit dem gelben Heck 2016 verliehen. Auch die Tatsache, dass Radfahrer fast hundert Prozent der Einbahnstraßen in beiden Richtungen befahren dürfen oder dass man die Räder - kostenlos! - in die U-Bahn mitnehmen darf, ist lobenswert. Selbst fäusteschwingende Kampfradler sind eine Seltenheit. Und wenn, handelt es sich meist um Deutsche.

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