Sergio Marchionne, 59, Chef von Fiat-Chrysler, ist Stratege, Denker, Visionär, Macher. Obwohl ihm der technische Background fehlt, liebt der überzeugte Pulloverträger schnelle Autos und gelegentliche Ausflüge auf die Rennstrecke. Im Tagesgeschäft interessiert er sich freilich mehr für Zahlen und Fakten als für die Produkte, die sie generieren.
Als der gelernte Rechtsanwalt und Wirtschaftsprüfer 2004 den Sanierungsfall Fiat Auto übernahm, lag ihm Italien zu Füßen. Doch spätestens seit dem Schulterschluss mit Chrysler, das 2009 von Cerberus zu Fiat wechselte, machen Gewerkschaften und Politiker mobil gegen den umtriebigen Querdenker. Der Grund: Marchionne hatte südländische Untugenden wie Schlamperei, Laisser-faire und den Einfluss der ehrenwerten Gesellschaft als wesentliche Ursachen der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit ausgemacht. Erst die Drohung, Teile der Produktion abzuziehen und die Fiat-Zentrale nach Detroit zu verlegen, zeigte Wirkung.
In nur 24 Monaten schaffte der Boss mit seiner Multikulti-Mannschaft den Turnaround bei Chrysler, das sich aktuell zu 58,6 Prozent in Fiat-Besitz befindet. Dank einer Absatzsteigerung von 26 Prozent im abgelaufenen Jahr verdient die Tochter inzwischen besser als die Mutter in Turin. Obwohl eine Fusion offiziell kein Thema ist, hat die Konsolidierung längst begonnen - und zwar primär in Form einer gemeinsamen Entwicklungs- und Produktionsoffensive für alle acht Marken.
Dabei kümmern sich die Amerikaner vorrangig um Geländewagen, Crossovers und Pick-ups. Das Know-how für den Pkw-Bereich wird dagegen schwerpunktmäßig in Europa koordiniert. Das klingt logisch, war aber während der Integrationsphase schmerzhaft, zeitraubend und immer wieder hart umkämpft.
Der für Alfa Romeo geplante große Crossover wurde zum Beispiel kurzerhand gestrichen und durch eine weitere Limousine ersetzt, die nächste Heckantriebsmatrix für Chrysler, Dodge, Alfa und Maserati droht aus Kostengründen zu einer Evolution des Status quo zusammengestrichen zu werden, die schwierige und teure Neuaufstellung von Alfa Romeo wurde um rund zwei Jahre nach hinten verschoben.
"Alfa und Jeep sind die einzigen Marken, die global funktionieren", glaubt Marchionne, der keine Gelegenheit auslässt, um den Erzfeind aus Wolfsburg an die Unverkäuflichkeit von Alfa Romeo zu erinnern. Die Zukunft von Lancia steht dagegen in den Sternen über Auburn Hills. Die vom Chrysler-Chef Saad Chehab mitverwaltete Marke versucht derzeit, mit einer Mischung aus Europa-Modellen (Ypsilon, Delta, Musa) und aufgehübschten US-Oldies (Voyager, 200 alias Flavia, 300 alias Thema) über die Runden zu kommen.
Die Stunde der Wahrheit schlägt jedoch spätestens 2013, wenn der Delta-Nachfolger als Viertürer und Kombi auf den Markt kommt. Ein Jahr später folgt der neue Flavia, der vom nächsten Chrysler 200 abgeleitet wird. Ebenfalls für 2014 haben die Italiener die Wachablösung des Voyager avisiert, der als Lancia ein eigenständigeres Design erhalten soll. Trotz dieser Innovationen springt das Management mit dem Comeback der Kultmarke möglicherweise zu kurz, denn im Portfolio fehlen emotionale Produkte wie Sportwagen, Coupé und Roadster sowie eine echte Oberklasse-Limousine oder eine Reinkarnation des legendären Integrale.
Fiat und Chrysler:Chrysler ade, Jeep hallo!
Für den Chrysler-Konzern ist nach Übernahme durch Fiat nichts mehr so, wie es einmal war. Chrysler wird in Europa zu Lancia ersetzt, weltweit böeibt nur Jeep als eigenständige Marke bestehen. Die immerhin bekommt ein neues Aushängeschild: den Grand Cherokee.
Im Chrysler 300C stecken noch diverse Gene einer längst verblichenen Mercedes E-Klasse, doch mit jeder Modellpflege wächst die Eigenständigkeit in Form von neuen Komponenten und Systemen. Das gilt auch für die nächste Generation des Maserati Quattroporte, der Anfang 2013 debütiert. 2014 erwarten Insider die Nachfolger von 300C und Dodge Charger/Challenger, den kleinen Maserati im BMW-Fünfer-Format, den Alfa 169 als späten Ersatz für den 166 und die Thesis-Neuauflage.
Unklar ist, ob diese Fahrzeuge noch auf die betagte Hardware zurückgreifen - oder ob sie bereits von einem neuen, modular aufgebauten Baukasten abgeleitet werden. Diese hochflexible Architektur, von der auch die nächste Minivan-Generation profitieren soll, ist wahlweise mit Front-, Heck- oder Allradantrieb darstellbar. Die Motorenpalette reicht vom sparsamen Vierzylinder (Tiger Shark) über optimierte V6-Aggregate (Multiair Pentastar) bis zum bulligen V8 (inklusive HEMI).
Die schon für 2013 erwartete neue SRT Viper bleibt natürlich ebenfalls dem Heckantrieb treu. Die Wiege des bärenstärken 8,7 Liter V10 steht in Motown, doch die Fahrzeugentwicklung soll mit der Neuauflage des Maserati GranTurismo koordiniert werden, wobei auch Querverbindungen zu Ferrari bei Materialien, Elektronik und Prozessen nicht ausgeschlossen sind.
Die Erneuerung von Alfa Romeo beginnt 2013 mit dem 4C-Mittelmotor-Coupé, dem MiTo-Facelift und einem neuen Viertürer im BMW-Einser-Format, der eines Tages den MiTo ablösen soll. Richtig spannend wird es 2014 mit der Giulia, die als Limousine und Sportwagon an den Start rollt - weitgehend baugleich mit dem nächsten Chrysler 200 und dem Lancia Flavia. Der kompakte Alfa Crossover und der artverwandte Nachfolger des Jeep Compass werden in Amerika hergestellt.
Im selben Jahr feiern der 169, die facegeliftete Giulietta und der Alfa Spider Premiere. Letzterer ist kein Ableger des 4C, sondern ein komplett neuer Zweisitzer mit Frontmotor und Heckantrieb, von dem es später ein viersitziges Coupé nach Art des klassischen GTV geben könnte. Im Gegensatz zum 4C, der auf rund 1500 Einheiten pro Jahr limitiert ist, soll der Spider auf ähnlich hohe Stückzahlen kommen wie der Porsche Boxster. Mit Doppelkupplungsgetriebe und speziell entwickeltem 1750-ccm-Voll-Alumotor könnte der Nachfahre des Duetto ein Renner werden.
Und was passiert mit der Kernmarke Fiat? Zum einen wird die Panda-Familie zügig ausgebaut, und zwar in Form von Abarth-, Cross- und Allrad-Ablegern. Auch für den Cinquecento stehen die Zeichen auf Expansion. In Genf debütiert zunächst eine wahlweise fünf- oder siebensitzige Multipla-Variante. Als gesetzt gelten darüber hinaus der 500 Fuoristrada 4x4, die Serienversion des Zagato Coupé, eine Ausführung mit Elektromotor und die nächste Leistungsstufe des Abarth. Während der Microvan in Serbien produziert wird, läuft der 4x4-Crossover in Mirafiori vom Band - Seite an Seite mit dem neuen Jeep Jeepster.
Ganz wichtig für Fiat sind die nächste Auflage des Punto (2013) und der für 2014 erwartete Bravo-Nachfolger, mit dem sich die Marke endlich in der Golfklasse etablieren will. Am oberen Ende der Skala bleibt es vorläufig beim eher nutzwertigen Dreigestirn aus Qubo, Dobló und Freemont. Eine große Limousine oder ein Kombi nach Croma-Art sind aktuell nicht vorgesehen, ließen sich aber auf der C/D-Weltautoplattform problemlos darstellen.
Jeep wird dagegen sein Angebot noch breiter auffächern. Während der Jeepster unterhalb von Patriot und Wrangler einparkt, besetzt der Grand Wagoneer von 2014 an die Luxusklasse. Das künftige Topmodell ist noch größer und schwerer als der ebenfalls in Detroit montierte Maserati Kubang.
Mit einer Barreserve von rund 19 Milliarden Euro, mit hohen Wachstumsraten und viel Zuversicht geht Sergio Marchionne ins neue Jahr. Klar, in China hinkt vor allem Fiat dem Aufschwung hinterher, der italienische Markt ist längst keine Goldgrube mehr, in Europa drohen Preiskämpfe und ein beinharter Verdrängungswettbewerb.
Aber dafür geht es in Amerika weiter aufwärts, findet Jeep langsam wieder zu alter Stärke zurück, und die Fiat-Produktion in Brasilien soll durch das neue Werk in Recife bis 2014 auf 1,2 Millionen Einheiten steigen. Spätestens 2014 dürfte auch der Zusammenschluss von Fiat Auto und der Chrysler-Gruppe unter Dach und Fach sein - mit einem gemeinsamen Volumen von hochgerechnet 5,5 Millionen Fahrzeugen.
Doch damit ist noch nicht Schluss. Ehe sich der seit kurzem vollbärtige Chef vollends der Musik, den schönen Künsten und seinen Sportwagen widmen kann, soll das Fiat-Chrysler-Imperium um eine dritte Säule erweitert werden. Dabei handelt es sich wohl nicht um die jüngst kolportierte Kooperation mit PSA, sondern um eine Allianz mit einem asiatischen Partner.
Nachdem Suzuki noch mit VW im Clinch liegt und Mitsubishi seit dem Bruch mit Daimler nur mehr ein Schatten seiner selbst ist, tippen Insider auf einen Deal mit Mazda. Pikanterie am Rande: Weil auch die Wolfsburger ein Auge auf Mazda geworfen haben, wäre es für den listigen Sergio gewiss eine Genugtuung, wenn er Mazda an sich binden und gleichzeitig Alfa zu neuer Blüte führen könnte.