Beunruhigende Unfallstatistik:Unfallursache? Rätselhaft!

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Bei immer mehr Verkehrsunfällen bleibt die Ursache unklar. Doch was sind die Gründe dafür? (Foto: lok)
  • Bei immer mehr Verkehrsunfällen bleibt die genaue Ursache ungeklärt.
  • Die meisten Unfallforscher bringen diesen Trend mit der gestiegenen Ablenkung am Steuer, beispielsweise durch Smartphones, in Zusammenhang.
  • Andere Experten sehen in der gestiegenen Nutzung von Medikamenten, vor allem von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie Antidepressiva, einen Hauptgrund für die höhere Zahl an "Unfällen aus ungeklärter Ursache".

Von Christof Vieweg

Die Strecke ist übersichtlich, das Wetter gut. Trotzdem kracht es am 22. März auf der Bundesstraße 31 bei Überlingen am Bodensee. Ein 20-jähriger BMW-Fahrer gerät plötzlich auf die Gegenfahrbahn und prallt frontal gegen einen Sattelschlepper. Der BMW fängt Feuer, für seinen Fahrer kommt jede Hilfe zu spät. In dem Lkw werden zwei Insassen verletzt. Bis heute weiß niemand, wie es zu dem Unfall kam. War der junge Mann abgelenkt, weil er mit seinem Smartphone spielte oder weil er das Navi programmierte? War er übermüdet? "Das wird für immer ein Rätsel bleiben", sagt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Konstanz.

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Das tragische Unglück ist kein Einzelfall; fast täglich lesen wir Meldungen dieser Art. "Unfall aus ungeklärter Ursache": Wenn dieser Satz in den Polizeiberichten auftaucht, lassen sich weder hohe Geschwindigkeit, verbotenes Überholen, zu geringer Abstand, Alkohol oder falsches Abbiegen feststellen. Es muss andere Gründe geben. Nur welche?

Ein Trend, der Sorgen macht

Polizisten, Juristen und Verkehrsexperten sprechen von "rätselhaften Unfällen" und beschreiben damit ein Phänomen, das inzwischen offenbar immer größere Dimensionen annimmt. Laut Statistik blieben 2013 über 18 Prozent aller schweren Verkehrsunfälle rätselhaft. Oder anders gesagt: Nach jährlich fast 65 000 Kollisionen mit Toten und Schwerverletzten und 12 500 Unfällen mit großem Sachschaden tappen die Behörden im Dunkeln. In manchen Bezirken können Polizeibeamte inzwischen bei jedem zweiten Verkehrsunfall nicht herausfinden, warum es zu der Karambolage kam. "Die Zahl der Unfälle mit ungeklärter Ursache ist von 2008 bis 2013 um 56 Prozent gestiegen", meldete die Kreispolizeibehörde im norddeutschen Borken Ende letzten Jahres und gab damit einen Trend wieder, der auch andernorts Sorgen macht.

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Gäbe es in der deutschen Unfallstatistik die Begriffe "Ablenkung" und "Unaufmerksamkeit" würde ein Großteil der unerklärlichen Kollisionen unter diese Rubriken fallen. So jedenfalls sehen es die meisten der bundesdeutschen Unfallforscher, die sich dabei aber nur auf Erkenntnisse aus dem Ausland stützen. Zum Beispiel aus Österreich, wo abgelenkte Autofahrer rund zwölf Prozent aller tödlichen Unfälle verursachen. 2005 waren es nur sieben Prozent. "Die Nutzung von Mobiltelefonen hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Mit Smartphones wird beim Autolenken nicht nur telefoniert, sondern auch im Internet gesurft", erklärt der Verkehrsclub Österreich den Trend in der Unfallstatistik. Auch in der Schweiz, in den USA oder in Neuseeland sollen gemäß amtlicher Statistiken zwischen zwölf und 27 Prozent aller schweren Unfälle auf das Konto abgelenkter Fahrer gehen. Nur in Deutschland wissen Polizei, Justiz und Unfallforscher nichts Genaues, sprechen stattdessen von "rätselhaften Unfällen".

Meist gibt es medizinische Unfallursachen

Langsam arbeiten sich Verkehrswissenschaftler in dieses Themenfeld vor. Einer von ihnen ist Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der deutschen Versicherer (UDV). Er wollte sich nicht mit den Resultaten der Unfallaufnahme von Polizei und Staatsanwaltschaft zufrieden geben, sondern rekonstruierte 118 Unfälle, die durch Sachverständigengutachten dokumentiert sind. Ziel war es, nach den wahren Gründen zu forschen, warum Autofahrer auf freier Strecke plötzlich von der Fahrspur abkommen und mit dem Gegenverkehr zusammenprallen.

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Damit deckt die UDV neben der riskanten Spielerei mit den Smartphones ein anderes, möglicherweise noch gravierenderes Phänomen auf Deutschlands Straßen auf. Der renommierte Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel nennt es den "Faktor Mensch": Seiner Meinung nach geben viele rätselhafte Verkehrsunfälle "keine Rätsel mehr auf", wenn sich die Unfallforschung nicht nur technischen Fragen widmet, sondern auch medizinische Aspekte und psychische Phänomene untersucht. Püschel: "Erkrankungen und Medikamente spielen im Unfallgeschehen viel häufiger eine Rolle als angenommen. Doch das wird viel zu selten untersucht."

Zwar werden manche Patienten erst durch Medikamente fit und können Auto fahren, doch rund ein Fünftel der über 50 000 in Deutschland zugelassenen Arzneimittel haben Wirkungen und Nebenwirkungen, die das Reaktions- und Wahrnehmungsvermögen vermindern - manche mit oft mehrstündiger Wirkdauer. Dazu zählen vor allem Schlaf- und Beruhigungsmittel, die seit einigen Jahren immer häufiger verordnet werden. Der Grund: Jeder vierte Bundesbürger leidet an ausgeprägten Schlafstörungen und sucht Hilfe in Pillenform. "Rund 20 Millionen Packungen Schlaf- und Beruhigungsmittel werden jährlich in Deutschland verkauft", berichtet die Hauptstelle für Suchtfragen und schätzt, dass inzwischen rund 1,2 Millionen Menschen von solchen Präparaten abhängig sind. Besonders tückisch ist der sogenannte "Hangover"-Effekt: Manche Schlaftabletten haben noch 16 Stunden nach der Einnahme eine Wirkung, die 0,5 Promille Blutalkohol entspricht.

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Die Warnungen der Pharmahersteller sind dürftig

Ein anderes Phänomen, das mit der Zunahme rätselhafter Verkehrsunfälle einhergeht, ist die steigende Zahl der Menschen mit Depressionen. Die Weltgesundheitsorganisation spricht von "einer der größten Volkskrankheiten" und das Robert-Koch-Institut schätzt, dass hierzulande bis zu sechs Millionen der 18- bis 65-Jährigen unter Depressionen leiden. Ärzte therapieren solche Patienten fast immer mit Antidepressiva: Spezielle Psychopharmaka, die laut Deutschem Verkehrssicherheitsrat (DVR) "Schläfrigkeit, Schwindel oder Koordinationsstörungen" verursachen und zu einem "risikoreicheren Verhalten im Straßenverkehr" führen können.

Doch die Warnungen der Pharmahersteller vor den Wirkungen und Nebenwirkungen sind dürftig. "Stellen Sie sicher, dass Konzentration und Aufmerksamkeit nicht beeinträchtigt sind, bevor Sie ein Fahrzeug lenken", lautet beispielsweise der Hinweis im Beipackzettel eines der meistverkauften Präparate, das beim DVR in einer Liste mit insgesamt 23 "für die Fahrtüchtigkeit bedeutsamen" Antidepressiva erscheint. "Für die meisten Mittel gilt, dass eine Teilnahme am Straßenverkehr erst nach längerer erfolgreicher medikamentöser Einstellung in Erwägung gezogen werden sollte", raten die DVR-Experten.

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77 Prozent ignorieren die Warnhinweise

Im Jahre 2000 verschrieben deutsche Ärzte rund 420 Millionen Tagesdosen Antidepressiva, inzwischen hat sich diese Zahl auf über 1,3 Milliarden verdreifacht. Das bedeutet: Bei einer Therapiedauer von durchschnittlich 180 Tagen schlucken hierzulande jährlich rund 7,4 Millionen Menschen diese Psychopharmaka. Das nennen die Autoren des aktuellen Arzneiverordnungs-Reports ein "irritierend hohes Verordnungsvolumen". Für Verkehrswissenschaftler, die über rätselhafte Verkehrsunfälle nachdenken, stellt sich indes immer häufiger die Frage, wie viele der Antidepressiva-Konsumenten mit dem Auto unterwegs sind.

In einer Umfrage des Apothekerverbands gaben 99 Prozent der Befragten an, dass sie über die Wirkung von Krankheit und Medikamenten auf die Fahrtüchtigkeit informiert sind. Mehr als drei Viertel (77 Prozent) von ihnen erklärten aber auch, die Warnhinweise zu ignorieren und sich trotzdem hinters Lenkrad zu setzen.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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