So schnell ändern sich die Zeiten: Einst als Lebensretter gelobt, gilt der Airbag inzwischen als eine der größten Problemfälle der Automobiltechnik. Weltweit rund 28 Millionen Personenwagen wurden in den vergangenen Monaten in die Werkstätten beordert, weil die Airbags im Ernstfall nicht schützen sondern verletzen können. Die Ursachen sind Pfuscharbeit bei der Herstellung der Gasgeneratoren, der Sensoren und Abdeckungen. Unzählige Autofahrer fragen sich deshalb, wie es um ihre Sicherheit bei einem Unfall bestellt ist.
Die Zweifel sind begründet, denn abgesehen von den Pannen bei der Airbag-Produktion hat der Luftsack in den letzten Jahren auch eine Reihe prinzipieller Schwachstellen offenbart. Selbst wenn er richtig eingebaut wurde und funktionstüchtig ist, zündet er in vielen Unfallkonstellationen nicht immer zuverlässig. Das zeigen Studien aus dem In- und Ausland (die SZ berichtete). Hinzu kommt, dass der Airbag durch schnelles Aufblasen mit hohem Druck schlimme Verletzungen der Insassen verursachen kann.
Je intensiver die Schallwellen, desto schwerer der Unfall
Zwar kennen Autohersteller und Zuliefererbetriebe die Probleme, doch nur langsam setzt sich eine bessere und vor allem intelligentere Airbag-Technik durch. So hat beispielsweise der Hannoveraner Autozulieferer Continental eine neuartige Sensortechnik entwickelt, die auch die häufigen Streifkollisionen zweier Autos oder Frontalkarambolagen mit extrem schrägem Anprallwinkel erkennt, bei denen bisherige Airbag-Sensoren oft versagen und die Luftsäcke nicht aktivieren. Das neue System ist ein Kontaktsensor, der in Form eines Druckschlauchs an der Innenseite des vorderen Stoßfängers befestigt wird. Die große Kontaktfläche über die gesamte Fahrzeugbreite erleichtert eine sichere Datenerfassung: Dank seiner exponierten Lage im vordersten Teil der Karosserie kann der Druckschlauch den Aufprallwinkel und die Aufprallzone schneller und präziser detektieren als bisher. Außerdem verkürzt sich die Reaktionszeit für die Rückhaltesysteme um bis zu 40 Prozent, berichtet das Forscherteam von Continental.
Eine zuverlässigere Aktivierung der Airbags verspricht auch das "Crash Impact Sound System" (CISS). Mit dieser Technik soll der Unfall quasi "gehört" werden: Sobald sich die Karosserie verformt, entstehen Körperschallwellen, die von Messfühlern registriert werden. Je intensiver die Schallwellen, desto schwerer der Unfall. So will CCIS-Erfinder Continental den Crash nicht nur zuverlässiger, sondern auch bis zu 15 Millisekunden früher als bei bisherigen Sensorsystemen erkennen.
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Nach der Serienpremiere im VW Golf setzt sich das CCIS-System langsam auch in der Serienproduktion anderer Autohersteller durch. Unterdessen sind die Entwickler großer Autozulieferer aber längst einen Schritt weiter. Ihr nächstes Ziel ist der "smarte" Airbag: Ein intelligentes System, das schon vor dem Aufprall - in der sogenannten Pre-Crash-Phase - aktiv wird. "Wir entwickeln integrierte Sicherheitsfunktionen, die im Falle einer unvermeidbaren Kollision den Unfalltyp und die Unfallschwere frühzeitig erkennen können", erklärt Bosch-Projektmanager Willy Klier. Die Pre-Crash-Auslösung basiere auf der Vernetzung von vorausschauenden Systemen wie Radar und Kamera mit Bremse, Lenkung und den Aufprallsensoren unter der Karosserie. Klier: "Somit können die Auslösezeiten der Schutzmittel im Fahrzeug optimiert und die Rückhaltewirkung exakt an die jeweilige Unfallschwere angepasst werden."
Mit anderen Worten: Man gewinnt Zeit für die Airbag-Zündung und kann dadurch bei langsamerem Druckaufbau ein größeres Luftvolumen aufblasen. Fahrer und Beifahrer werden also früher als bisher von großen Luftpolstern aufgefangen und besser in ihren Sitzen fixiert. Auch ein variabler Airbag, der seine Größe und Form automatisch je nach Sitzposition verändert, ist in Entwicklung. Hat der Beifahrer den Sitz zum Beispiel weit nach vorne geschoben, wird der Airbag durch Fangbänder in seinem Inneren daran gehindert, sich in voller Größe zu entfalten. Auf diese Weise sollen sich nicht nur die Belastungen beim Crash, sondern auch die Verletzungsrisiken vermindern lassen, die von den Luftsäcken ausgehen.
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Von smarten Airbags sollen in Zukunft auch die Fondpassagiere von Personenwagen profitieren. Zulieferer TRW hat für den Citroën C4 Cactus bereits einen neuartigen Dach-Airbag für die hinteren Mitfahrer entwickelt und will bis Ende 2018 auch einen neuen Luftsack anbieten, der in die Rückseite der Vordersitzlehnen passt.
Die Vernetzung der Airbags mit den Kameras und Radarsensoren moderner Autos soll in Zukunft auch neue Möglichkeiten für den Seitenaufprallschutz eröffnen. Die Firma TRW arbeitet daran, seitliche Kollisionen im Voraus zu erkennen und die Zeit bis zum Aufprall nicht nur für das Aufblasen der Seitenairbags zu nutzen, sondern auch den Sitz von Fahrer oder Beifahrer nach innen zu schieben. Dadurch soll sich der Raum zwischen Tür und Insassen vergrößern, sodass ein größerer Thorax-Seitenairbag eingesetzt werden kann. Mehr noch: Um das überdurchschnittlich hohe Verletzungsrisiko beim Seitenaufprall zu reduzieren, entwickelt TRW einen externen Seiten-Airbag, der an der Außenseite der Karosserie Tür, Schweller und B-Säule abdeckt - eine seitliche Knautschzone sozusagen, die Energie abbaut.
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Die Sicherheitsforscher räumen allerdings ein, dass bis zur Serienreife der Pre-Crash-Airbags noch eine Reihe von Aufgaben zu lösen sind. "Die besondere Herausforderung ist die extrem kurze Zeit, in der ein Aufprall erkannt und der Airbag entfaltet werden muss", erklärt TRW-Sprecherin Britta Höller. Tatsächlich hat der Computer vor dem Aufprall nur 0,015 Sekunden Zeit, um zu entscheiden, ob die Airbag-Zündung plausibel ist oder nicht.