Mario Scholten sieht aus, als könne ihn so schnell nichts aus der Bahn werfen. Der Polizist ist seit 14 Jahren im Streifendienst, ein groß gewachsener, stämmiger Mann, der Kabelbinder und Handschellen locker am Gürtel trägt. An diesem Morgen steht er in der Aula des Kölner Georg-Büchner-Gymnasiums. Sein Publikum, eine Gruppe 16-Jähriger, macht ihm die Sache nicht leicht. "Hallo Bulle", ruft ein junger Mann in der letzten Reihe. Gelächter, Zwischenrufe. Doch dann fängt der Bulle an zu erzählen.
Scholten berichtet von einer Nachtschicht, die wie jede andere begann. Ein paar Ruhestörungen, nichts Besonderes. Kurz vor Feierabend noch eine Meldung aus der Zentrale: Verkehrsunfall mitten in Köln. Was der Polizist dort zu sehen bekam, zeigt er den Schülern per Beamer: ein Blechknäuel, das mal ein Auto war, völlig deformiert um einen Baum gewickelt. "Der Fahrer war überhaupt nicht zu sehen", sagt Scholten, "und von der Beifahrerin guckten nur die Füße hervor." Sagen konnte sie nichts, nicht mal mehr stöhnen. "Nur diese Augen, die werde ich nie vergessen. Sie flehten mich an, ihr zu helfen, bevor sie sich für immer schlossen."
In der Aula lacht jetzt niemand mehr. Den Teenagern steht der Schock ins Gesicht geschrieben, und das ist gewollt. "Crashkurs NRW" heißt die Abschreckungskampagne, die seit vier Jahren durch Schulen in Nordrhein-Westfalen tourt. Zu Wort kommen Einsatzkräfte, Ersthelfer und Angehörige, die ein Familienmitglied bei einem Verkehrsunfall verloren haben. Durch deren Schilderungen sollen junge Erwachsene zu vorsichtigerem Fahren animiert werden, besonders die männlichen. Denn, so hat es das Statistische Bundesamt in seinem aktuellen Jahrbuch erneut erfasst, 18- bis 24-Jährige haben noch immer das mit Abstand höchste Unfallrisiko im Straßenverkehr.
Junge Leute gelten als Hochrisikogruppe
493 junge Erwachsene sind im vergangenen Jahr in Deutschland tödlich verunglückt. Das ist zum einen ein erfreulich niedriger Wert, 1991 waren es noch 2749 Opfer. Andererseits gelten junge Leute noch immer als Hochrisikogruppe. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind sie fast doppelt so oft in tödliche Unfälle verwickelt. Die Allianz-Versicherung kommt in ihrer aktuellen Studie "Jung und urban" zu dem Schluss, dass 2013 fast jeder vierte getötete Pkw-Fahrer zwischen 18 und 24 Jahre alt war - und das, obwohl diese Gruppe nur acht Prozent aller Führerschein-Inhaber ausmacht. Die Statistik zeigt auch, dass drei Viertel aller Getöteten männlich waren und überproportional viele Crashs zwischen 19 Uhr und fünf Uhr früh passierten.
"Da kommt einfach alles zusammen", sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer. "Unerfahrenheit, Risikobereitschaft und Aggressivität sind in diesem Alter am größten." Dass es trotzdem möglich ist, an bestimmten Stellschrauben zu drehen, zeigen neue Gesetze wie das begleitete Fahren ab 17. Als der Modellversuch vor zehn Jahren in Niedersachsen startete, gab es viele Kritiker. Doch die wurden bald eines Besseren belehrt: Untersuchungen der Universität Gießen belegten, dass Fahranfänger mit Begleitung deutlich weniger Unfälle bauten als die volljährige Vergleichsgruppe. Inzwischen wurde das begleitete Fahren bundesweit eingeführt, ebenso wie die Null-Promille-Grenze für unter 21-Jährige.
Gefährliche Mischung aus Testosteron und Leichtsinn
Allein durch Gesetze lässt sich die Mischung aus Testosteron und Leichtsinn aber nicht besiegen. Siegfried Brockmann formuliert es zugespitzter: "Setzen Sie einen jungen Mann und zwei Frauen ins Auto und Sie haben fast immer ein Problem." Der Vorschlag des Unfallforschers: Ein halbes bis ein Jahr nach der Führerscheinprüfung sollen Fahranfänger eine Testfahrt absolvieren, bei der sie eine Rückmeldung zu ihrem Fahrverhalten erhalten. "Nach dieser Zeit haben sich alle Verhaltensweisen eingespielt", sagt Brockmann. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist von einem solchen "Mehr-Phasen-Modell" explizit die Rede, doch außer der Absichtserklärung ist bislang nicht viel passiert. "Ergebnisse liegen noch nicht vor", antwortet das Verkehrsministerium auf Nachfrage.
Für diejenigen, die jede Woche ein Unfallopfer auf dem OP-Tisch liegen haben, fühlen sich solche Verzögerungen wie eine Ewigkeit an. "Wir wollten nicht länger warten", sagt Paola Koenen, Assistenzärztin am Klinikum Köln-Merheim. Vor drei Jahren übernahmen die Unfallchirurgen dort ein Konzept, das es in Kanada schon seit 1986 gibt. Beim "Projekt P.A.R.T.Y." werden Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren einen Tag lang durch alle Stationen des Krankenhauses geführt, die ein Unfallopfer durchläuft. Auf der Intensivstation sehen sie, wie Gleichaltrige um ihr Leben kämpfen; zur anschließenden Gesprächsrunde erscheint ein Reha-Patient, der noch immer an den Folgen seines Unfalls leidet. "Trauma-Zyklus" nennt das die Expertin. Ob es etwas bringt?
"Harte Fakten dazu fehlen", räumt Koenen einen. Ein Jahr nach dem Krankenhausbesuch würden die Teilnehmer aber noch einmal gefragt, ob sie sich ans Tempolimit halten, beim Radeln einen Helm tragen oder SMS am Steuer schreiben. Das Ergebnis: "Bei 98 Prozent konnte eine positive Wirkung nachgewiesen werden." Neun weitere Krankenhäuser sind inzwischen in das Projekt eingestiegen, die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie beteiligt sich finanziell.
Doch Autowracks und Horrorbilder sind nicht jedermanns Sache, zumal die Langzeitwirkung umstritten ist. Einen komplett anderen Weg geht die "Aktion Bob", die junge Leute in Rheinland-Pfalz, Hessen, Thüringen, Bayern und dem Saarland erreichen will. Die Idee ist simpel: Wer sich bei der Polizei einen Schlüsselanhänger mit der Aufschrift "Bob" abholt, kann diesen in teilnehmenden Kneipen, Restaurants und Discos vorzeigen - und erhält dafür ein kostenloses alkoholfreies Getränk. "So etwas kommt bei der Zielgruppe richtig gut an", sagt Dirk Brandau von der Gießener Polizei. Er hat im Bereich Mittelhessen nach eigenen Angaben bereits 200 000 Schlüsselanhänger verteilt.
Anders als bei vielen anderen Kampagnen lässt sich der Erfolg von "Bob" an konkreten Zahlen festmachen. Die Universität Gießen hat die Unfallzahlen der 18- bis 24-Jährigen analysiert. Die "Bob-Region" Mittelhessen schnitt dabei sehr gut ab: Zwischen 2006 und 2011 gingen die alkoholbedingten Unfälle dort um 44 Prozent zurück; im gesamten Bundesland waren es lediglich 27 Prozent. Warum das Projekt trotzdem nicht in ganz Hessen läuft? Brandau zuckt mit den Schultern. "Jeder kocht gerne sein eigenes Süppchen."
Überhaupt herrscht beim Thema Verkehrssicherheit große Uneinigkeit. Die einen setzen auf Abschreckung wie beim "Crashkurs NRW", andere wollen junge Raser durch Plakate auf der Autobahn zur Räson bringen (ob und wie sie wirken, ist unter Verkehrspsychologen umstritten). Außerdem ändern sich die Schwerpunkte ständig. Bis vor Kurzem galten noch Alkoholfahrten als größtes Problem. Seit die Null-Promille-Grenze für Fahranfänger eingeführt wurde, hat sich die Lage ein wenig entspannt. So hatten lediglich zehn Prozent aller 18- bis 20-Jährigen, die 2013 in einen schweren Unfall verwickelt waren, zuvor etwas getrunken. Unter den 25- bis 64-Jährigen sind es elf Prozent.
Gravierender ist heute die Gefahr durch "Texting", also dem SMS-Schreiben am Steuer. Einer Umfrage des Reifenherstellers Goodyear zufolge lässt sich jeder vierte Deutsche dazu hinreißen; Frauen (30%) übrigens mehr als Männer (23%). "Wenn die Whatsapp-Nachricht aufblinkt, nützen alle alkoholfreien Getränke nichts mehr", weiß auch Dirk Brandau. Man werde den Schwerpunkt der Bob-Aktion daher verschieben - hin zu Problemen wie Texting.
Im Kölner Gymnasium erzählt Mario Scholten am Ende, dass zu viel Alkohol und eine "absolut irre Geschwindigkeit" dem jungen Pärchen das Leben gekostet hatten. Die Erinnerung daran, sagt er, werde er nie wieder los.