Verkehrssicherheit:Mein Feind, der Baum

Herbstliche Allee in Brandenburg

Naturschützer kontra Verkehrsopfer: Der Baumbestand an Alleen fordert jedes Jahr Todesopfer unter Verkehrsteilnehmern.

(Foto: dpa)

2013 kamen in Deutschland mehr als 600 Autofahrer durch Baumunfälle ums Leben. Doch wenn Fällungen drohen, gibt es Protest. Die einen wollen die Natur retten - andere Menschenleben.

Von Steve Przybilla

Die weißen Kreuze sind für Autofahrer deutlich zu sehen. Mitglieder des Naturschutzbunds Deutschland (Nabu) haben sie auf all jene Bäume gemalt, die demnächst gefällt werden sollen. Auf der Insel Rügen, die sich ihres mehr als 400 Kilometer langen Alleen-Netzes rühmt, tobt deswegen eine erbitterte Debatte: Gehören die Laubbäume gefällt, weil sie den Ausbau von Landstraßen behindern und Autofahrer gefährden? Oder wäre es unverzeihlich, die Kulturgüter, die sogar in der mecklenburg-vorpommerischen Verfassung erwähnt werden, dem Zeitgeist zu opfern?

Für Marlies Preller, Geschäftsführerin des Nabu-Kreisverbands Rügen, ist die Sache klar: "Es geht nicht, dass sich die Natur an das Fehlverhalten der Menschen anpassen muss", sagt die Naturschützerin, die seit Jahrzehnten für den Erhalt heimischer Alleen kämpft. Erfolgreich ist sie nicht immer, wie eine Rundfahrt über die Insel zeigt. Dort, wo die Nabu-Mitglieder in den vergangenen Jahren die Stämme mit Kreuzen bemalt haben, durchschneidet heute eine Ortsumgehung die Landschaft - ohne Bäume. "Hier wird gebaut, als wären wir in der Großstadt", schimpft Preller, "und das ohne Rücksicht aufs Geld oder die Natur."

Interessanterweise konzentriert sich die Debatte aber nicht nur auf Norddeutschland, wo die meisten Alleen stehen. Auf Rügen tobt sie nur besonders heftig, weil einerseits die Bevölkerung vom Alleen-Tourismus lebt. Andererseits bricht in der Hochsaison regelmäßig der Verkehr zusammen, wenn die schmalen Straßen, die teilweise noch so breit sind wie im 19. Jahrhundert, den Ansturm nicht mehr bewältigen können. Hinzu kommt die Unfallgefahr: 2013 kamen bundesweit 601 Menschen bei Baumunfällen ums Leben, das sind 18 Prozent aller Verkehrstoten.

Eine Möglichkeit wären Leitplanken

Solche Fakten lassen sich schwer ignorieren, zumal die EU-Kommission die Zahl der Verkehrstoten bis 2050 europaweit auf null reduzieren will ("Vision Zero"). Um dieses Ziel zu erreichen, richten sich Straßenbaubehörden bei Um- oder Neubauten nach der sogenannten RPS-Richtlinie. RPS steht für "Richtlinie für den passiven Schutz an Straßen durch Fahrzeug-Rückhaltesysteme". Das Dokument listet auf, wie die Gefahr durch "nicht verformbare punktuelle Einzelhindernisse", also Bäume, entschärft werden kann. Eine Möglichkeit dazu wären Leitplanken. Doch die Richtlinie lässt keinen Zweifel daran, dass etwas anderes Vorrang hat: das "Entfernen von Hindernissen".

Wie streng die Richtlinien umgesetzt werden, hängt vom jeweiligen Bundesland ab. In Brandenburg, dem Land mit den meisten Alleen (knapp 11 000 Straßenkilometer), gilt seit 2006 ein vom Landtag beschlossenes Schutzkonzept. In Bayern betont das Verkehrsministerium, die Richtlinien kämen nur bei Neu-, Um- oder Ausbauten zum Einsatz. "An Bestandsstrecken gilt für Hindernisse (...) der Bestandsschutz", betont Pressesprecherin Katja Winkler. Man prüfe immer zuerst, ob Schutzplanken angebracht werden können. Und: "Auch wenn ein Baum im Widerspruch zu den Vorgaben der RPS steht, folgt daraus nicht zwingend, dass er entfernt werden muss."

Fällen ist billiger

Genau das aber bezweifelt der Bundestagsabgeordnete Josef Göppel. "Jede Woche berichten mir verzweifelte Bürger von scheinbar wahllosen Abholzungen", sagt der CSU-Politiker. Er befürchtet, dass vor allem in Bayern kurzer Prozess gemacht wird, da der Freistaat bis 2020 die Zahl der Verkehrstoten um 30 Prozent verringern will. "Man sollte immer zuerst prüfen, ob Leitplanken angebracht werden können", sagt Göppel. Aus Kostengründen sei es aber oft genau andersherum - Fällen ist billiger. Um seinem Ärger Luft zu machen, hat Göppel bereits zwei Briefe an seinen Parteifreund, Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt geschrieben. Die Antwort auf den zweiten steht noch aus, die erste findet er "unzureichend".

Besonders umstritten sind Neupflanzungen. Die RPS-Vorgaben besagen, dass neue Bäume mindestens 7,5 Meter von der Fahrbahn entfernt stehen müssen. Wie Göppel fordert auch der Deutsche Naturschutzring (DNR), diesen Wert auf 4,5 Meter zu senken, wie im vorherigen Richtwerk. Ein Vorbild könnte Mecklenburg-Vorpommern sein, wo Mindestabstände von 3,5 Metern (Landesstraßen) und 4,5 Metern (Bundesstraßen) gelten. Und selbst die sind oft nicht umsetzbar, wie sich auf Rügen zeigt. Landwirte weigern sich, ihre Felder neben der Straße herzugeben, also wird nur halbherzig nachgepflanzt. Nabu-Aktivistin Preller geht davon aus, dass 20 Prozent der neuen Alleen wieder eingehen.

Straßen mit Bäume sind das Ergebnis einer anderen Verkehrssituation

Doch nicht alle wollen die Kulturgüter um jeden Preis erhalten. "Straßen mit Bäumen sind oft wunderschön, aber ein Ergebnis vergangener Zeiten mit einer völlig anderen Verkehrssituation", sagt Detlev Lipphard vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat. Der DVR gehört zu den Vorkämpfern der "Vision Zero" - und plädiert im Zweifel für die Verkehrssicherheit. "Naturschützer, die alleine dem Verkehrsteilnehmer die Schuld zuweisen, machen es sich zu einfach, da bereits kleine Fahrfehler zu schwersten Unfallfolgen führen können", sagt Lipphard. Statt neue Alleen anzulegen solle man lieber Büsche pflanzen.

Auf Rügen spaltet die Debatte die Einwohner. "Ich war am Anfang für den Ausbau der Landstraßen", sagt Frank Bönke, ein 56-jähriger Elektrotechniker. "Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher." Jutta Scheunemann (55), die seit 39 Jahren auf der Insel lebt, spricht sich klar für die Bäume aus und hält auch das Sicherheitsargument für falsch: "Die Alleen haben doch nichts damit zu tun, dass die Leute zu schnell fahren." Wenn sie das sagt, hat das besonderes Gewicht: Ihr eigener Sohn kam vor 14 Jahren bei einem Baumunfall ums Leben.

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