Fahrerassistenzsysteme:Smarter Chauffeur

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Eine Frontkamera erkennt weite Teile des Umfelds vor dem Auto. Weitere Kameras am Fahrzeugheck und an den Seiten erlauben einen Rundumblick. (Foto: ZF Friedrichshafen AG)

Der Hype um Autos ohne Lenkrad ist vorbei. Das automatisierte Fahren kommt trotzdem.

Von Joachim Becker

Mars-Mission nennen sie das autonome Fahren bei BMW. Andere sehen es eher als Himmelfahrtskommando: Audi hat den Autopiloten im A8 auf Eis gelegt, Daimler, Ford und andere vertagen ihre Robotertaxis. In einer Branche, die um's Überleben kämpft, haben Weltraumprojekte keine Priorität.

Die Krise könnte den Wandel dennoch beschleunigen: Verkehrsmittel, die physische Distanz erlauben, erleben ein Revival. Jüngere Generationen entdecken das Auto als rollenden Schutzraum - selbst wenn sie bisher nicht viel gefahren sind. Auch in Zukunft können sie sich einige Mühe sparen, solange sie die Assistenten der nächsten Generation permanent beaufsichtigen. Mit dem Fahrer als Rückfallebene macht das teilautomatisierte Fahren (Level 2+) keine Schwierigkeiten bei der Zulassung - und es profitiert vom Entwicklungsaufwand für die Autos ohne Lenkrad. Ab Jahresende sollen die Assistenten hoch vernetzt, komfortabel und sicher wie nie sein - und dabei bezahlbar bleiben.

Teslas Autopilot hat es vorgemacht: Nach Auswertungen des Herstellers halbiert sich das Unfallrisiko mit dem aktivierten System. Immer vorausgesetzt, der Fahrer bleibt aufmerksam, auch wenn er in den USA nicht ständig am Lenkrad zupfen muss. Hier wie dort drängt die Politik auf eine höhere Automatisierung, weil 90 Prozent aller Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen sind. Voriges Jahr haben sich die EU-Länder auf Notbrems- und Spurhalteassistenten als Neuwagen-Standard ab 2022 geeinigt. Die erschwinglichen, kamerabasierten Lebensretter sollen bis 2038 mindestens 25 000 Unfalltote und 140 000 Schwerverletzte vermeiden. Doch die elektronischen Helferlein können mehr als auf Fußgänger, Radfahrer und Fahrbahnmarkierungen achten.

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Bisher blicken Assistenzsysteme wie durch ein Fernrohr auf die Welt. Beispielhaft für den Tunnelblick sind Notbremsassistenten, die ignorieren, dass der Anhalteweg mit zunehmender Kälte länger wird. Weil sie nicht im Fahrzeug vernetzt sind, haben sie keine Ahnung von der Außentemperatur geschweige denn von rutschigen Straßen, die vorausfahrende Fahrzeuge über ihren Schleuderschutz ESP erkannt haben. Auch Spurhalter, die wie betrunken torkeln oder Kameras, die Tempolimits unzuverlässig erkennen, fehlt der notwendige Informationsaustausch.

Niemand gibt viel Geld für Assistenten aus, die bei Nebel, Regen oder Gegenlicht den Dienst quittieren. Die Systeme müssen also robuster werden und voneinander lernen - über Autogrenzen hinweg. Schon bald sollen kollektiv gesammelte Daten zum Treiber des Fortschritts werden: Zum Beispiel über hoch genaue Karten, die vom Autoschwarm selbst erzeugt werden. Tesla rüstet seine Neuwagen bereits serienmäßig mit dem Autopiloten aus, der mit der Datenbank des Herstellers vernetzt ist. "500 000 Teslas funktionieren wie ein neuronales Netzwerk, das kontinuierlich Daten sammelt und den Kunden alle 14 Tage Updates mit verbesserten Funktionen zur Verfügung stellt", sagt VW-Konzernchef Herbert Diess: "Kein anderer Autohersteller kann das heute."

In sechs Jahren haben Tesla-Fahrer drei Milliarden Kilometer mit dem aktivierten System zurückgelegt. Doch wie groß ist der Vorsprung wirklich? Hersteller wie BMW haben 14 Millionen vernetzte Fahrzeuge auf den Straßen, die ebenfalls anonymisierte Daten sammeln und per Software-Update über die Luftschnittstelle aktualisierbar sind (ab dem Betriebssystem 7.0). Im Grunde reicht eine zentrale Frontkamera mit ihrem breiten Sichtfeld, um viel von der Umwelt zu verstehen. Sie kann aus der Abfolge ihrer zweidimensionalen Bilder auf die dritte Dimension schließen und Objekte räumlich genau verorten. Alles eine Frage der Rechenleistung und der smarten Bilderkennungssoftware.

Der Weltmarktführer bei vernetzten Kamerasystemen kommt nicht aus Kalifornien oder Deutschland, sondern aus Israel: Mobileye hat mehr als 50 Millionen Autos mit Kamera-Computern zur Umfelderkennung ausgestattet. Drei Jahre nach der Übernahme durch den Chipriesen Intel liegt das Wachstum weiter bei 50 Prozent pro Jahr. "Wir erwarten, dass sich die Ausrüstung mit Fahrerassistenzsystemen bis 2025 auf 75 Prozent aller Neuwagen mehr als verdreifachen wird", sagt Erez Dagan, der bei Mobileye für Produkt und Strategie verantwortlich ist. Was mit exklusiven Abstandstempomaten begann, ist mittlerweile ein Milliardengeschäft für die breite Masse. Der neue VW Golf ist beispielsweise in der Top-Ausstattungslinie Style serienmäßig mit dem "Travel Assist" (auf Basis des Mobileye-Systems) unterwegs. Eine kontrollierende Hand am Lenkrad genügt, damit der Copilot auf Autobahnen bis 210 km/h das Lenken, Gasgeben und Bremsen übernehmen kann.

Im ZF-Testwagen werden erkannte Objekte wie die Spurmarkierungen auf einem Extra-Bildschirm angezeigt. In Europa darf der Fahrer die Hände aber nicht längere Zeit vom Lenkrad lassen. (Foto: ZF Friedrichshafen AG)

Lange Strecken lassen sich so ermüdungsfreier abspulen, doch der "Travel Assist" mag weder enge Kurven noch das städtische Gewusel mit Gegenverkehr, Ampeln und kreuzenden Autos. Auch das grobmaschige Satelliten-Navigationssystem (GPS) reicht nicht aus, um sich im Großstadtdschungel zurecht zu finden. Zwei Meter weiter rechts oder links machen einen großen Unterschied, wenn man schon auf der Gegenfahrbahn steht statt auf der Abbiegespur. Bisher gingen Experten davon aus, dass automatisierte Autos spezielle, zentimetergenau Karten benötigen. Mobileye-Chef Amnon Shashua erkannte früh, dass sich diese mit konventionellen Messwagen nur zu exorbitanten Kosten erstellen lassen. Deshalb zeichnen die Mobileye-Kameras den Straßenverlauf kontinuierlich auf. Die wichtigsten Bildpunkte werden mit einem geringen Datenvolumen anonymisiert an einen Server übermittelt.

Mittlerweile tragen 40 Millionen Fahrzeuge automatisch dazu bei, aus diesen Bildpunkten hochgenaue Karten für alle Kontinente zu erstellen. Die preiswerte Frontkamera funktioniert also nicht nur als direkter Sensor, sondern über die ins Auto zurückgespielten Karten demnächst auch als indirekter Sensor. Auch bei schlechten Sichtverhältnissen kann sich das Fahrzeug über Kamera und Crowd-Sourcing-Karte präzise lokalisieren. Damit will Mobileye (genau wie Tesla) teure Extra-Sensoren vermeiden. Volvo führt dagegen stolz seinen neuen Lidar-Sensor vor, der ab 2022 oberhalb der Frontscheibe als schmales Band eingebaut werden soll. Der Sicherheitsgewinn durch ein derart genaues Messgerät, das bei jedem Wetter und auch bei Nacht funktioniert, ist hoch. Doch es bleibt abzuwarten, ob der Mehrwert auch für die Mehrheit der Autokäufer stimmt. Denn ab dem Automatisierungs-Level 3 werden extrem leistungsstarke Zentralcomputer sowie redundante Systeme für Bremsen und Lenkung fällig.

Volvos neuer Lidar-Sensor, der über der Frontscheibe sitzt, bringt zwar bei jedem Wetter und selbst nachts ein sehr genaues Abtastbild. Er dürfte aber relativ teuer werden. (Foto: Volvo)

Stattdessen will der Zulieferer ZF mit einem Autohersteller aus Asien bereits Ende des Jahres ein besonders kosteneffizientes "Level 2+"-System auf den Markt bringen. Zu einem Aufpreis von wenig mehr als tausend Euro sollen auch Volumenmodelle teilautomatisiert fahren können. Kern des ZF coASSIST ist ein zusätzliches Steuergerät, das Mobileyes EyeQ-Kamera und ein neues ZF-Radar für mittlere Reichweiten verbindet. Der Assistent erfüllt die Zulassungsvorschriften in Europa ab 2022 und die noch höheren Anforderungen, die das Prüfinstitut EuroNCAP ab 2024 an Neufahrzeuge anlegt. Systeme wie ZF coASSIST werden also in absehbarer Zeit zum Standard, deshalb planen die meisten Hersteller schon darüber hinaus.

Noch mehr Komfort soll ZF coDRIVE bieten: Das System meistert nicht nur Kunststückchen wie den vorausschauenden Spurwechsel auf der Autobahn. Es weiß dank fortschrittlicher Routenplanung und Lokalisierung auch, an welcher Ausfahrt es - ebenfalls automatisiert - auf- oder abfahren soll. Dabei kommen die hochgenauen Crowdsourcing-Karten von Mobileye zum Einsatz, zusätzliche Kameras behalten den 360°-Überblick über das Verkehrsgeschehen. Noch einen Schritt weiter gehen die hochautomatisierten Systeme, die BMW und Mercedes für 2021 angekündigt haben. Fragt sich nur zu welchem Preis.

Womöglich ist die erfolgreiche "Mars-Mission" weniger eine Frage des Geldes als der verfügbaren Daten. "Unsere Zuversicht, bis 2022 Robotertaxis in einer Reihe von Städten weltweit einzusetzen, ist in den vergangenen Monaten noch einmal gestiegen", bekräftigte Amnon Shashua vor wenigen Tagen. Nach der Übernahme von Mobileye hat Intel jetzt fast eine Milliarde Euro in Moovit investiert. Das israelische Start-up ist führend im Bereich Mobility-as-a-Service (MaaS) mit mehr als 800 Millionen Nutzern in über 100 Ländern. Nach eigenen Angaben bietet Moovit um 70 Prozent mehr Daten über den öffentlichen Verkehr als Google Maps. Der Leiter des MaaS-Bereichs von Mobileye saß bis zum Sommer des vergangenen Jahres in Wolfsburg: Johann Jungwirth wollte Robotertaxis bei VW einführen. Jetzt wird der Ersteinsatz in Israel stattfinden - zusammen mit VW.

© SZ vom 16.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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