Kindergesundheit:Gesundheitsrisiko Armut

Jedes vierte Kind aus ärmeren Familien ist psychisch auffällig. Auch die körperliche Gesundheit der Kinder in Deutschland hängt von ihrer sozialen Herkunft ab.

W. Rögener

Bei Säuglingen offenbart sich häufig schon nach wenigen Minuten auf der Welt ihre soziale Herkunft. Sind die Eltern arm und haben einen niedrigen Bildungsabschluss, bringt ein Neugeborenes laut Statistik im Schnitt 50 Gramm weniger auf die Waage als Kinder aus wohlhabenden Familien. Das niedrigere Geburtsgewicht ist nur der Anfang einer langen Reihe von Ungleichheiten, die Experten in der Entwicklung von Kindern aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten feststellen.

Immer eindrücklicher zeigen Studien, wie sehr die Gesundheit von Kindern von ihrer sozialen Herkunft abhängt. In allen untersuchten Ländern, in reichen wie armen Gesellschaften, sind Unterschichtkinder schlechter ernährt, verletzen sich häufiger, haben mehr Infektionskrankheiten und mehr Karies als ihre Altersgenossen aus wohlhabenden Familien. Das hat eine aktuelle Übersichtsarbeit eines internationalen Autorenteams kürzlich bestätigt. Auch in Deutschland sind arme Kinder oft kranke Kinder, wie zahlreiche Studien inzwischen belegt haben.

Im "Kinder- und Jugendgesundheitssurvey" (Kiggs) des Robert Koch-Instituts RKI wurden zwischen 2003 und 2006 17.000 Kinder und Jugendliche zwischen null und 17 Jahren untersucht. Armut sei das größte Gesundheitsrisiko für Kinder, fasst Bärbel-Maria Kurth, Leiterin der Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung des RKI, die Ergebnisse zusammen.

Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien haben schlechtere Zähne. Sie werden häufiger bei Verkehrsunfällen verletzt, bekommen öfter eine Mandelentzündung und leiden stärker an Herpes. Während in der Kiggs-Studie fast zehn Prozent der Kinder mit dem niedrigsten Sozialstatus die Masern gehabt hatten, waren es in der wohlhabenden Gruppe nur fünf Prozent. Hingegen berichteten Eltern von Kindern aus wohlhabenden Haushalten häufiger von Allergien, Bindehautentzündungen, Erkältungen und Magen-Darm-Infekten. Das könnte aber auch daran liegen, dass deren Eltern stärker auf diese Symptome achten und mit ihren Kindern eher zum Arzt gehen, schreiben die Autoren.

Obwohl arme Kinder häufiger krank werden, erhalten sie seltener Medikamente als Mittel- und Oberschichtkinder. Die Kosten für Arzneimittel, die nicht vom Arzt verordnet werden, mögen hier eine Rolle spielen: Etwa acht Euro pro Monat sieht der Hartz-IV-Regelsatz für die "Gesundheitspflege" eines Kindes vor. Dabei wären nach Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zwischen 12,68 und 14,69 Euro notwendig. Auch die Vorsorgeuntersuchungen sind ein Indiz für die schlechtere medizinische Versorgung armer Kinder. So wird die U9 bei den Sechsjährigen nur von knapp 80 Prozent der Unterschichtfamilien wahrgenommen, bei der Oberschicht sind es fast 90 Prozent.

Besonders deutlich zeigen sich die Unterschiede zwischen Kindern aus armen und wohlhabenden Familien in der Ernährung. Das beginnt schon im Säuglingsalter: Nur zwei Drittel der Kinder mit dem niedrigsten Sozialstatus werden gestillt, aber 90 Prozent der Oberschichtkinder. Und auch wenn sie älter werden, essen arme Kinder ungesünder. So leiden in der Altersgruppe der 11- bis 13-Jährigen weniger als vier von hundert Kindern mit hohem Sozialstatus unter krankhaftem Übergewicht, bei Gleichaltrigen mit dem niedrigsten Status sind es hingegen mehr als dreimal so viele.

Dabei mangelt es aus Sicht des Berliner Kinderarztes Ulrich Fegeler nicht am guten Willen der Eltern. Wer von Hartz-IV lebte und keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss habe, wolle genau wie andere Eltern das Beste für seine Kinder, so der Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Nur wüssten die Eltern oft nicht, was das Beste sei. "Kinder werden mit süßem Zeug vollgestopft, sehen zu viel fern, und es wird zu wenig mit ihnen gespielt und gesprochen", sagt Fegeler. "Die Folgen sind oft Übergewicht, Karies, vor allem aber Entwicklungsstörungen."

"Wir verschleudern die Talente von Zigtausenden Kindern"

Doch selbst wenn Eltern wissen, dass der Gemüseauflauf für ihr Kind besser ist als die Fertig-Pizza, können sie sich eine gesunde Ernährung oft nicht leisten. Das gilt besonders für Familien mit mehreren Kindern. 2008 lebten 22 Prozent der Familien mit drei Kindern von einem Einkommen, das unter 60 Prozent des Durchschnitts liegt. Bei Familien mit vier und mehr Kindern waren es 36 Prozent der Familien. Das Armutsrisiko kinderreicher Haushalte sei gegenüber 1998 überdurchschnittlich gestiegen, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest.

Es sei kaum möglich, mit dem Hartz-IV-Regelsatz ein Kind gesund zu ernähren, hat das Institut für Kinderernährung in Dortmund berechnet. Auch wenn man Lebensmittel nur beim Discounter kaufe, reichten 3,42 Euro pro Tag für Jugendliche ab 14 Jahren nicht für eine ausgewogene Ernährung. Gut ein Euro mehr müsste es mindestens sein. Inzwischen wurde der Betrag um 12 Cent erhöht.

Depressionen, Kopfschmerzen, Entwicklungsstörungen

Zunehmend rücken die psychischen Probleme armer Kinder in den Vordergrund. Das Hauptproblem seien heute nicht mehr die klassischen Kinderkrankheiten und Infektionen, sagt Fegeler. Stattdessen betreffen Entwicklungsstörungen, Depressionen, Kopfschmerzen und psychosomatische Beschwerden wie Bauchschmerzen unklarer Ursache Kinder aus sozial schwachen Familien überdurchschnittlich häufig. Die Kiggs-Studie bestätigt dies: Etwa bei jedem vierten Kind mit niedrigem Sozialstatus zwischen drei und 17 Jahren gab es Hinweise auf psychische Probleme. Während etwa 15 Prozent der 11- bis 17-Jährigen aus der Oberschicht Symptome einer Essstörung zeigen, sind es bei Gleichaltrigen mit niedrigem Sozialstatus mehr als 27 Prozent. Der Anteil von Kindern mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen ist um das Doppelte erhöht.

Das Wohlergehen eines Kindes hängt nicht nur von der medizinischen Versorgung ab. Notwendig ist auch die soziale und kulturelle Förderung. "Kinder müssen Mitglied im Sportverein sein können, oder beispielsweise in einer Band Musik machen," fordert Fegeler. Solche Gruppen seien enorm wichtig, damit sich Kinder trotz problematischer sozialer Bedingungen gesund entwickeln. Doch das scheitert häufig am fehlenden Geld für Mitgliedsbeiträge, Instrumente, die Sportausrüstung, oder Fahrtkosten. Mehr als ein Drittel der Unterschichtkinder treibt seltener als einmal pro Woche Sport, hingegen nur ein Sechstel der Kinder aus besseren Verhältnissen. Und so schneiden sozial schlechter gestellte Kinder laut Kiggs-Studie im Schnitt deutlich schwächer ab, wenn motorische Fähigkeiten getestet werden, etwa ausdauerndes Hüpfen oder das Stehen auf einem Bein.

Wie wichtig eine intensive Förderung ist, wird besonders auffällig bei Kindern mit einer Behinderung wie dem Down-Syndrom. Beschäftigt man sich intensiv mit ihnen, könnten diese Kinder oft Erstaunliches erreichen, hat Fegeler beobachtet. Wo Familien ihre Kinder, ob gesund oder behindert, nicht ausreichend fördern könnten, sei eine frühe Betreuung in einer gut ausgestatteten Kindertagesstätte notwendig. "Und die muss selbstverständlich kostenlos sein", fordert Fegeler. Wer hingegen arbeitslose Mütter mit einem Betreuungsgeld dazu zu animiere, ihre Kinder nicht in die Kita zu schicken, verhindere die notwendige Förderung.

Dass es an guten Betreuungsangeboten fehlt, sieht der Arzt als wichtigen Grund dafür, dass Kinder aus armen und bildungsfernen Familien so viel schlechter dran sind als andere. "Wer sagt: 'Wozu brauchen Arbeitslose einen Kita-Platz für ihre Kinder, die sind doch zu Hause und können sich selbst darum kümmern', der übersieht, wie teuer uns das zu stehen kommt", sagt Fegeler. "Wir verschleudern dadurch die Talente von Zigtausenden Kindern, die sich körperlich und geistig nicht so entwickeln, wie es möglich wäre. Das kann sich unser Land wirklich nicht leisten."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: