Streit um das Beschneidungsurteil:Ratio zwischen Recht und Religion

Viele Juden und Muslime empfinden es als Anmaßung, dass ein Gericht die Beschneidung von Kindern als Straftat bewertet. In einer Gesellschaft, in der die Rechte des Einzelnen einen so hohen Stellenwert haben wie in Deutschland, müssen sich aber alle dieser schwelenden Debatte stellen. Ein Plädoyer für eine sachliche und inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Kölner Urteil.

Markus C. Schulte von Drach

Als "eklatanten Eingriff" in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften bezeichnet es der Zentralrat der Muslime in Deutschland, und für den Zentralrat der Juden ist es ein "unerhörter Akt": Das Urteil der Kölner Richter, eine Beschneidung aus religiösen Gründen sei eine Straftat, wird von vielen Juden und Muslimen als Anmaßung wahrgenommen, als massiver Angriff auf die Religionsfreiheit im Allgemeinen und ihre Religion im Besonderen. Selbst christliche Würdenträger und Funktionäre sind empört und auch viele Künstler und Journalisten stellen sich an ihre Seite.

Chirurgische Instrumente werden für die Beschneidung eines jüdischen Säuglings vorbereitet.

Vorbereitung auf die Beschneidung eines jüdischen Säuglings. Viele gläubige Muslime und Juden sind empört darüber, dass Kölner Richter das Ritual zur Straftat erklärt haben.

(Foto: dpa)

45 Prozent der Deutschen sind einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa zufolge jedoch für ein Verbot, 42 Prozent dagegen. Ein Riss geht offenbar durch die Bevölkerung.

Regierung, Sozialdemokraten und Grüne fordern inzwischen mehrheitlich, dass die religiöse Beschneidung weiterhin möglich sein muss - nur die Linke ist unentschlossen. An diesem Donnertag will der Bundestag einen Entschließungsantrag verabschieden mit dem Ziel, die Rechtsunsicherheit möglichst schnell zu beseitigen.

Angesichts der Empörung und der Emotionen ist es offenbar notwendig, einige Dinge klarzustellen, um eine inhaltliche und sachliche Debatte zu ermöglichen. Einige Befürworter des Urteils sind, wie von manchen gemutmaßt, vielleicht antisemitisch, antimuslimisch oder antireligiös motiviert. Man kann den Kölner Richterspruch jedoch auch begrüßen und zugleich überzeugt davon sein, dass der Islam zu Deutschland gehört, dass es Muslimen in Deutschland möglich sein muss, Moscheen und Minarette zu errichten sowie Kopftücher zu tragen, und dass der Gedanke, Juden aus Deutschland vertreiben zu wollen, absurd und verwerflich ist.

Dass eine solche respektvolle Haltung gegenüber anderen für viele Menschen heute selbstverständlich ist, verdanken wir einer langen Entwicklung hin zu einer modernen Gesellschaft, geprägt durch den langen Kampf um die individuellen Rechte jedes einzelnen Menschen.

Zu den Rechten, die in unserem Staat nicht angetastet werden dürfen, gehören allerdings auch gerade jene, die die Kölner Richter mit ihrem Urteil schützen wollen: das Recht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit und die individuelle Religionsfreiheit. Wofür also werden die Kölner Richter so heftig kritisiert?

Sieht man von den Antiislam- und Antisemitismusvorwürfen ab, beschränkt sich die Kritik an dem Urteil überwiegend darauf,

[] dass hier eine Tausende Jahre alte religiöse Tradition als Straftat beurteilt werde,

[] dass das Urteil die Religionsfreiheit und das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung einschränke,

[] dass die Beschneidung als Verletzung so schlimm nicht sei, wie von den Befürwortern dargestellt wird. Schließlich seien weltweit nicht nur Muslime und Juden beschnitten, sondern auch ein großer Teil etwa US-amerikanischer Männer - unabhängig von ihrer Religion. Und zwar ohne Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit. Im Gegenteil. Beschnittene hätten sogar deutliche hygienische und medizinische Vorteile gegenüber Unbeschnittenen, heißt es häufig.

[] Kritisiert wurde außerdem von Juristen, dass die Richter unter anderem das gesetzliche Verbot körperlicher Züchtigung von Kindern anführen, um das Urteil zu rechtfertigen. Bei der Beschneidung aber ginge es nicht um Bestrafung.

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung

Einige Kritikpunkte lassen sich leicht entkräften:

Das Verbot körperlicher Züchtigung: Satz 1, Absatz 2 des Paragrafen 1631 BGB, auf den die Kölner Richter sich konkret beziehen, lautet: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung." Was sie hier im Sinn haben, ist: Das Wegschneiden der Vorhaut als Teil der religiösen Erziehung eines Kindes ist eine Form von körperlicher Gewalt. Und die darf ihrer Meinung nach genauso wenig toleriert werden wie das Schlagen von Kindern zu Erziehungszwecken. Die Richter sind so zu verstehen: Wenn schon das Schlagen verboten ist, dann kann in diesem Rahmen ein bleibender, schmerzhafter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht erlaubt sein.

Die medizinischen Argumente: Auch die Hinweise auf mutmaßliche medizinische oder hygienische Vorteile der Beschneidung führen in die Irre. Es gibt Fälle, bei denen die Beschneidung von Kindern medizinisch gerechtfertigt ist. Und es spricht einiges dafür, dass unter bestimmten Bedingungen die Beschneidung von Männern von Vorteil sein könnte. Gesundheitsbehörden wie die WHO empfehlen jedoch nicht die allgemeine Beschneidung von Männern oder kleinen Jungen. Vielmehr geht es um reife Menschen, die selbst über den Eingriff entscheiden können. Und es gibt Betroffene, die beklagen, dass das Sexualempfinden durchaus beeinträchtigt werde.

Was noch wichtiger ist: Die Beschneidung von jüdischen und muslimischen Jungen wird ja gar nicht medizinisch oder mit besserer Hygiene begründet. Sie wird allein religiös gerechtfertigt.

Die religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Argumente: Diskutiert werden muss also über einen so empfundenen Angriff auf die Freiheit der Religion, auf die Freiheit der Gläubigen, nach ihren religiösen Geboten und Gesetzen zu leben, und auf das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung.

Andererseits geht es hier um nicht weniger als um das Grundgesetz in Deutschland, also auch um das Recht auf körperliche Unversehrtheit jedes einzelnen Menschen, um die Freiheit, über den eigenen Glauben und die Religionszugehörigkeit und alle Konsequenzen auch selbst entscheiden zu können - und darüber, ob man sich den Ritualen unterziehen und ihre Folgen in Kauf nehmen will.

Konflikte sind unausweichlich

Dass es hier zu Konflikten kommen muss, liegt auf der Hand. Dies zeigt schon der lange und mühsame Weg, den unsere Gesellschaft zurücklegen musste, bis sich die jetzt vorherrschende Vorstellung von den individuellen Rechten des Menschen durchsetzen konnte. Natürlich haben auch viele Gläubige für mehr Menschlichkeit gekämpft und tun es immer noch. Aber es waren nicht zuletzt die religiösen Gruppen in Europa, namentlich die christlichen Kirchen, die lange Widerstand geleistet haben gegen die Vorstellung, jeder Mensch sei von Natur aus frei und selbständig. Daran erinnert noch heute die Position, die die katholische Kirche etwa zur sexuellen Selbstbestimmung und den Rechten von Homosexuellen einnimmt. Noch 1957 rechtfertigte selbst das Bundesverfassungsgericht den später abgeschafften Paragrafen 175 StBG, der Homosexuelle kriminalisierte, vor allem damit, "dass die öffentlichen Religionsgesellschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, [...] die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen".

Natürlich müssen gläubige Menschen es als Anmaßung wahrnehmen, wenn sich eine Behörde in das Ausüben ihrer Religion einmischt. Es ist eine Zumutung, wenn jahrtausendealte Rituale in Frage gestellt oder sogar zur Straftat erklärt werden - Rituale, deren Zweck es ist, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft festzulegen. Identitätsstiftende Rituale also, die das Selbstverständnis eines Mannes als Jude oder Muslim mitbestimmen und deshalb für jeden einzelnen eine immense Bedeutung haben können.

Religionen befinden sich aber weder in einem rechtsfreien noch in einem rechtfertigungsfreien Raum. Sie können Gott als höchste Instanz betrachten. Sie können überzeugt davon sein, seine Worte und Gebote aus Heiligen Büchern und aus dem Mund ihrer Propheten genau zu kennen. Trotzdem - oder gerade deshalb - müssen sie in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft Kritik aushalten und ihr Weltbild hinterfragen lassen wie jeder andere.

Beschneidung bei Juden und Muslimen

Für Muslime stellen sich die konkreten Probleme mit dem Kölner Urteil übrigens etwas anders dar als für Juden. Es gibt im Koran kein Beschneidungsgebot. In den Islam tritt man mit dem Aussprechen des Bekenntnisses zum Glauben (Kelime-i Sehadet) an den einzigen Gott und seinen Propheten ein. Muslime sollen aber dem Vorbild Abrahams folgen - und dieser hat sich angeblich selbst beschnitten. Dies und verschiedene Aussagen muslimischer Propheten werden so interpretiert, dass ein Muslim beschnitten sein muss. Wann, das ist offenbar nicht festgelegt.

Das religiöse Bestimmungsrecht der Eltern endet in Deutschland mit dem 14. Geburtstag des Kindes. Religiöse Gründe scheinen im Islam nicht dagegen zu sprechen, die Beschneidung aufzuschieben, bis der Jugendliche selbst darüber entscheiden kann. Allerdings stellt der Eingriff gemeinsam mit dem Fest zu diesem Anlass den Eintritt in die muslimische Gemeinschaft dar.

Die Frage ist für die Gläubigen sicher ebenfalls eine Zumutung - aber es ist in unserer Gesellschaft erlaubt und muss erlaubt sein, sie zu stellen: Muss dieser Eintritt im Kindesalter zwingend mit einer Körperverletzung einhergehen? Gibt es keine Alternative? Die Geschichte zeigt, dass sich Religionen verändern, dass Rituale abgewandelt werden. Ist das in Bezug auf die Beschneidung undenkbar? Darum geht es, und nicht um die Aufgabe des Glaubens oder das Verschwinden der Muslime aus Deutschland.

"Des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volk"

Gläubigen Juden ist, anders als Muslimen, die Beschneidung in ihrem Heiligen Buch vorgeschrieben. Es handelt sich um ein im jüdischen Tanach eindeutig formuliertes Gebot Gottes. Im Ersten Buch Mose, das zugleich auch das erste Buch des christlichen Alten Testaments ist, heißt es: "Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. [...] Das soll ein Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Ein jegliches Knäblein, wenn's acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. [...] Und wo ein Mannsbild nicht wird beschnitten an der Vorhaut seines Fleisches, des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volk, darum dass es meinen Bund unterlassen hat."

Gläubige Juden gehen demnach davon aus, dass ein Verbot der Beschneidung gar nicht eingehalten werden kann, denn hier steht der Bund mit Gott auf dem Spiel. Die meisten Juden würden nach einem Verbot deshalb aus Deutschland auswandern, kritisieren orthodoxe Rabbiner - vertrieben aus einem Land, das in der Vergangenheit immerhin schon einmal versucht hat, sie als Volk vollständig auszulöschen.

Das aber ist nicht das Ziel des Kölner Urteils und sicher nicht der Wunsch der Richter. Das Urteil richtet sich ja nicht gegen Juden als solche oder gegen das jüdische Volk. Denn zu diesem Volk gehört man, wenn die leibliche Mutter Jüdin ist. Darüber entscheidet nicht die Beschneidung. Und niemand käme wohl auf die Idee, etwa Albert Einstein zu einem Nichtjuden zu erklären, nur weil er nicht an einen Gott glaubte, mit dem man als Jude einen besonderen Bund eingehen könnte. "Ich glaube", erklärte er, "an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit dem Schicksal und den Handlungen der Menschen abgibt." Baruch de Spinoza (1632 - 1677) war ein jüdischer Philosoph, der wegen eben dieses Gottesbildes aus der jüdischen Gemeinde in Amsterdam ausgeschlossen wurde.

Auch in Israel gibt es Juden, die ihre Kinder nicht beschneiden lassen. Offizielle Zahlen liegen nicht vor. Schätzungen gehen von ein bis zwei Prozent jüdischer Jungen aus, die in den vergangenen zehn Jahren geboren und nicht beschnitten wurden, berichtete kürzlich die israelische Zeitung Haaretz. Eine Umfrage des israelischen Internetportals Mamy, schreibt die Zeitung weiter, hatte 2006 festgestellt, dass sogar 3,2 Prozent von fast 1400 jüdischen Eltern von Jungen angaben, das Ritual nicht vollzogen zu haben. Und fast ein Drittel der Eltern hätte gern darauf verzichtet, ließ die Beschneidung aber vor allem aufgrund von sozialem und familiärem Druck vornehmen. Organisationen wie Ben Schalem, Kahal und Jews Against Circumcision unterstützen jüdische Eltern in ihren Zweifeln am Ritual.

Inzwischen gibt es sogar einige Juden, die versuchen, eine alternative Zeremonie zu etablieren, bei der die Jungen wie die Mädchen am achten Tag nach der Geburt in der Synagoge nur ihren Namen erhalten, aber nicht beschnitten werden.

Jude ist man also auch ohne Beschneidung. Unbeschnittene Jungen sind bislang allerdings noch Außenseiter, denen der Rabbi die Bar Mizwa verweigern kann - die Aufnahme in die Gemeinde und das Erreichen der religiösen Mündigkeit mit dreizehn Jahren. Auch ob sie auf einem jüdischen Friedhof beerdigt werden, hängt davon ab, wie orthodox der Rabbi der jeweiligen Gemeinde ist.

Und nicht alle Rabbis teilen die Meinung, ein Verbot der Beschneidung wäre "der Tod des Judentums", wie der Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Yitshak Ehrenberg, kürzlich bei Anne Will gewarnt hat. So erklärte der Rabbiner Yehoram Mazor vom Hebrew Union College in Jerusalem laut FAZ: "Wer als Jude geboren ist, aber nicht beschnitten wurde, ist trotzdem ein vollwertiges Gemeindemitglied. Die Religion macht da keinen Unterschied."

Das Urteil richtet sich auch nicht pauschal gegen die Religion oder die gläubigen Juden an sich. Es fordert nicht von ihnen, Abstand zu nehmen von ihrer Überzeugung, dass es einen allmächtigen Gott gibt, der sie zum auserwählten Volk bestimmt hat. Sie haben die Freiheit, davon auszugehen, dass es seit 3700 Jahren einen besonderen Bund zwischen ihnen und ihrem Gott gibt, der durch die Beschneidung der männlichen Juden besiegelt wird. Das Gericht stellt nur fest, dass es sich dabei um eine Körperverletzung unmündiger Kinder handelt, die dazu dient, einen Bund mit einem Gott zu besiegeln, an den sie vielleicht später gar nicht glauben.

Es stellt sich also die Frage, wie wichtig es für gläubige Juden ist, dass ihre Jungen mit acht Tagen beschnitten werden. Die Antwort, die bislang zu hören war, lautet: die Beschneidung ist essentiell.

Auch Erwachsene können sich noch beschneiden lassen

Aber auch gläubige Juden halten sich nicht mehr an sämtliche Gebote und Vorschriften Gottes, die man der Heiligen Schrift entnehmen kann, räumt man bei der Union Progressiver Juden in Deutschland ein. Und den Bund mit Gott kann man tatsächlich auch mit einer späteren Beschneidung eingehen. Konvertiten etwa lassen sich noch als Erwachsene beschneiden. Das gilt ebenso für Juden, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind und dort nicht beschnitten wurden.

Auch in der Union Progressiver Juden will man nicht völlig ausschließen, dass in Zukunft irgendwann einmal selbst gläubige Juden über die strenge Einhaltung der Vorschrift diskutieren könnten. Derzeit hält man das allerdings für eine rein theoretische Frage. Zu bedeutend seien die Worte, die Gott der Heiligen Schrift zufolge an Abraham gerichtet hat.

Zu den großen Errungenschaften unserer Gesellschaft gehört die Freiheit der Religion, die leider noch viel zu häufig verteidigt werden muss. Zu den großen Errungenschaften gehört aber auch der Anspruch, dass jeder einzelne Mensch Respekt verdient, ungeachtet des Geschlechts, der Herkunft, der Religion, des Berufs. Das gilt für den Hartz-IV-Empfänger, den Asylbewerber, den Obdachlosen. Und das gilt uneingeschränkt auch für jedes Kind.

Deshalb bleibt selbst nach der möglichen Einführung eines neuen Gesetzes die Frage bestehen: Darf dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit und Religionsfreiheit ausgehebelt werden durch eine religiöse Vorschrift aus dem vierten Jahrtausend vor unserer Zeit oder andere uralte Traditionen? Auch religiöse Menschen sollten bereit sein, darüber eine offene, ehrliche, faire und vor allem nachdenkliche Auseinandersetzung zu führen.

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