Brexit:Boston, die europafeindlichste Stadt Großbritanniens

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Den Menschen geht es gut, die Geschäfte laufen, nur wenige sind arbeitslos. Trotzdem hat ein Großteil der Bevölkerung gegen Europa gestimmt. Ein Ortsbesuch.

Von Lea Hampel, Boston, Lincolnshire

Wann immer die Trennung kommen wird, hier ist sie schon da. "Europäer". Die vier alten Männer auf einer Eckbank im Moon Under Water Pub spucken das Wort aus, als wäre es abgestandenes Bier, "Europäer" seien überall, und zwar zu viele von ihnen, wiederholen sie in der Stammtisch-Dauerschleife. Einfache Sätze, die einer sagt, der andere wiederholt, zu denen alle nicken und den nächsten Schluck nehmen.

Dass sie selbst, rein formal, noch Europäer sind, scheint ihnen weder bewusst noch recht zu sein. Schließlich haben sie, wie 75,6 Prozent ihrer Mitbürger in Boston, Lincolnshire, im Nordosten Englands, für den Brexit gestimmt. Ohne Europa, ohne Europäer, sind sie überzeugt, wäre alles besser - dabei liegen die Gründe für ihre Unzufriedenheit wenig an Europa, und viel an der Wirtschaft hier.

Die Stadt ist ein Synonym für schlechte Stadtentwicklung

Der Weg über die Brücke, an der das Moon Under Water liegt, vermittelt eine Ahnung, was Boston einst war. Den Fluss säumen hübsche Ziegelbauten, auf der anderen Seite liegt der mittelalterliche Marktplatz. Vor Jahrhunderten gehörte die Stadt zur Hanse, der König verbrachte seine Sommer hier, später gab es Industrie und Landwirtschaft, ein Großteil des Gemüses auf Londoner Tellern stammt noch heute aus der Erde rund um Boston.

Und doch hat es nur wenige Jahre gedauert, in denen Boston zum Synonym für schlechte Stadtentwicklung wurde. Normalerweise kreieren kleine Orte gern künstliche Superlative, hier würde man auf so manchen Spitzenwert der vergangenen Jahre gern verzichten. Alyson Buxton, Leiterin der anglikanischen Pfarrgemeinde der zentralen Kirche Sankt Botolph, verdreht die Augen. "Was waren wir nicht schon alles!" Die fetteste Stadt, die mit der geringsten Bildung, die am stärksten segregierte, die mit der höchsten Migrantenkonzentration nach London. Und jetzt: die europafeindlichste Stadt des Königreiches.

Auf jeden Superlativ folgten Fragen nach dem Warum, die Antworten auf alle hängen zusammen, aber sind komplexer als es sich vermuten ließe. Denn Boston geht es objektiv nicht schlecht. Die Arbeitslosigkeit liegt unter 1,5 Prozent; es gibt Geschäfte, mehrere Schulen, zweimal die Woche ist Markt, die Straßenränder zieren Blumen, in den Pubs sitzen mittags die ersten vor ihrem Pint. "Die Geschäfte laufen gut", sagt ein Metzger, dessen Familie seit 45 Jahren hier Fleisch verkauft; auch ein Juwelier berichtet, die Zahl der Kunden habe zugenommen; beide profitieren von dem, was viele Bostoner dazu gebracht hat, für den Brexit zu stimmen: von der Migration.

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Zwischen 2004 und 2014 hat sich die Zuwandererzahl vervierfacht

Wie sehr sich die gesteigert hat, kann Alyson Buxton an einer Zahl festmachen: 15 000 Gedenkteelichter für die Kirche kauft sie im Jahr, weil diese Tradition bei Osteuropäern verbreitet ist und sie nun ein Drittel der Besucher im Sonntagsgottesdienst stellen. Tatsächlich hat sich die Zahl der Zuwanderer zwischen 2004 und 2014 mehr als vervierfacht. Anfang der Zweitausenderjahre kamen Portugiesen her, heute sind zehn Prozent der Bewohner Litauer, Polen und Rumänen.

Dass Boston als Problemstadt gilt, sagt Lokalpolitiker Paul Gleeson, liege nicht an ihnen. "Die Migration ist nur ein Symptom." Allerdings eines, das sich mit anderen Faktoren potenziert. Gleeson sitzt in der Labour-Opposition im Rat von Boston und kann diese Faktoren auswendig aufzählen: Zwar gibt es hier seit Jahrhunderten Zuwanderer, aber früher kamen die Arbeiter nur wenige Monate. Mit der Zeit wurden die Fabriken weniger, viele Einheimische zogen weg, Geschäfte standen leer. Doch seit der Jahrtausendwende wurde die Landwirtschaft mehr: Düngung und Technik wurden verbessert, die Erntesaison dehnte sich von sechs auf zehn Monate aus und zum Anbau kam die Weiterverarbeitung bis zur Verpackung.

Dadurch gab es mehr Jobs für niedrig, und weniger Jobs für hoch Qualifizierte. Arbeiter aus dem Ausland kamen häufiger und blieben länger. Waren das früher Iren und später Portugiesen, kamen mit der Freizügigkeit von 2004 an Osteuropäer, die für weniger Geld arbeiteten. Das Ergebnis war, was Politiker Gleeson eine "massive Umwälzung der Bevölkerung" nennt. Der Anstieg fiel mit der Sparpolitik des damaligen Premiers David Cameron zusammen. Allein zwischen 2007 und 2011 war das Gemeindebudget um zehn Millionen Pfund geringer als im gleichen Zeitraum davor - das bedeutete: weniger Geld für Infrastruktur, Gesundheitswesen, Schulen, Integrationsmaßnahmen.

Bislang waren es die Einheimischen gewohnt, mit einem einfachen Schulabschluss von ihrer Hände Arbeit eine Familie ernähren zu können. Jetzt lebten sie in einer Stadt, in der die höchsten Mieten der gesamten Region East Midlands verlangt werden, während die Durchschnittslöhne sinken. "Klar geht es nicht allen schlecht", sagt auch Lokalpolitiker Gleeson. "Aber es sind genug, um das System zu zerstören."

Zur tatsächlichen Entwicklung kam die Angst. "Den Menschen tun die Veränderungen weh", sagt Gleeson. Das beeinflusst die Wahrnehmung.

"Jedes Wochenende findet nun ein Mord statt" sagt einer der Männer im Pub. Die Zahl ist tatsächlich gestiegen, liegt aber unter einer Quote von einem Toten pro Woche. "Die Ausländer kriegen alle Wohnungen", sagt sein Nebensitzer. De facto wurden Sozialwohnungen an private Käufer verkauft, die nun stundenweise an ausländische Arbeiter vermieten. Doch es ist wie stets: Je größer die Ängste, umso einfacher die Antworten. "Zu schnell zu viele" ist der Slogan, auf den sich selbst diejenigen einigen, die sich für ein friedliches Miteinander einsetzen.

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Die Kirchen kämpfen gegen die Zersetzung der Stadt an

Die Sorgen der Menschen seien nicht genug beachtet worden, sagt Gemeindevorsitzende Buxton. Sie sitzt an einem Tisch in der Kirche. Hier gibt es nicht nur Bänke, sondern Kaffee und eine Spielecke. Hinweise für Gläubige stehen an der Pinnwand auf Polnisch und Russisch. Buxton will Menschen zusammenbringen, "so gastfreundlich wie möglich sein."

Die Kirchen sind nur zwei von vielen Akteuren, die versuchen, gegen die innere Zersetzung der Stadt anzuarbeiten. Politiker Gleeson hat, mit Wissenschaftlern und anderen, schon 2012 an einem Council Report mitgeschrieben, der Verbesserungsvorschläge beinhaltete. Unter anderem wurde beschlossen, mehr Kontrollen auf den Straßen durchzuführen. Für Schüler, die noch nicht Englisch können, erhalten die Institutionen Geld für Sprachunterricht. 120 Millionen Pfund aus den Fördertöpfen des Landes fließen seit 2014 noch bis 2020.

Doch die Realität hat die politische Planung längst überholt; der schlechte Ruf eilt der Stadt voraus. Gleeson erzählt, dass von 14 Stellen, die die Stadt vergangenes Jahr für junge Ärzte ausgeschrieben hat, nur vier besetzt werden konnten. "Die geben Boston, Lincolnshire bei Google ein - und überlegen sich, woanders hinzuziehen." Er klingt resigniert. "Die Rechte hat es geschafft, die Geschichte zum Europa-Votum folgendermaßen zu verkaufen: Wenn du für raus wählst, geht es dir besser", sagt Gleeson.

Dass das nun kommt, hoffen auch die Männer im Pub - dass die Probleme tiefer liegen, geht im nächsten Pint unter.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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