Nach Referendum:Londons Zuwanderer leiden am Brexit

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Der Traum der britischen Hauptstadt als "United Nations of London" scheint für viele Zuwanderer nach dem Brexit-Votum ausgeträumt. (Foto: AFP)
  • Viele Menschen, die zum Arbeiten nach London gezogen sind, fühlen sich seit dem Brexit-Votum abgelehnt.
  • Sie fragen sich, ob es sich überhaupt noch lohnt, eine neue Wohnung zu suchen - oder ob sie nicht gleich nach einem Job in einem anderen Land Ausschau halten müssten.

Von Lea Hampel, London

"Sie sind unsere Nachbarn, Kollegen und Mit-Londoner", sagte Sadiq Khan. Der Londoner Bürgermeister hatte zu einer Veranstaltung für EU-Diplomaten geladen, der Brexit war keine drei Wochen her, und Khan musste beruhigen - all die Menschen, die einen großen Anteil am Londoner Leben, der Londoner Wirtschaft haben, erklärte er, müssten sich willkommen fühlen.

Noch vor wenigen Monaten wäre das eine überflüssige Veranstaltung gewesen. Fremde, in London willkommen? Ja, was denn sonst? Noch heute reicht die U-Bahnfahrt vom Bahnhof Liverpool Street in jede Himmelsrichtung, ein Spaziergang entlang der Themse oder ein Cafébesuch in der City: Gespräche in 15 verschiedenen Sprachen, an den Kiosken Zeitungen aus aller Welt, vorbei an Kneipen mit holländischen Pannenkoekjes und polnischem Borschtsch: Es ist nicht eine Stadt, es sind die "United Nations of London", wie eine Zeitung schrieb. Nur: Seit einigen Wochen sind sie etwas weniger vereint, diese Nationen.

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Drei Millionen Londoner stammen aus anderen Ländern

Dabei blickt London auf eine lange Migrationsgeschichte zurück: "In London gibt es alles, was das Leben bieten kann", sagte schon der britische Gelehrte Samuel Johnson 1777. Das fanden die Jahrhunderte darauf etliche Menschen. Von den 8,6 Millionen, die derzeit in der Stadt leben, stammen drei Millionen aus anderen Ländern. Und die Stadt stand bis vor Kurzem wie keine in Europa für das, was der europäische Binnenmarkt sein kann: 40 Prozent der Londoner mit nichtbritischem Pass stammen aus anderen europäischen Staaten.

Seit das Referendum zugunsten eines EU-Ausstiegs ausgegangen ist, hat sich für sie so einiges geändert. Denn auch wenn die Mehrheit der Londoner für einen Verbleib gestimmt hat: 1,5 Millionen der Stadtbewohner waren dagegen. Und damit, so empfinden es viele derer, die hergezogen sind, gegen sie. "In Wahrheit war das keine Abstimmung über die EU, sondern eine über Migration", sagt Alan Ali. Er arbeitet für das Migrants Rights Network. Normalerweise setzt sich die Organisation für schlecht behandelte Arbeiter aus Osteuropa oder Drittwelt-Staaten ein. Seit der Brexit-Entscheidung hat Ali viel mit Griechen, Niederländern und Deutschen zu tun. Die sind vor allem eines: unsicher. Alan erklärt ihnen immer wieder, dass Verhandlungen bevorstehen und keinesfalls klar ist, wie es mit EU-Bürgern in Großbritannien weitergeht. Aber er sagt auch: "Das einzige, was sicher ist, ist, dass nichts sicher ist."

Für viele fängt es bei praktischen Fragen an: Lohnt es sich, eine neue Wohnung zu suchen? Schaue ich nach einem Job woanders? Solche Fragen bekommen außer Ali derzeit auch andere zu hören: Beim Law Centres Network, das kostenlose Rechtsberatung anbietet, klingeln die Telefone durchgehend. Die Zahl der Anträge auf Staatsbürgerschaft ist gestiegen. Bücher, die auf den Test für die Bewerbung um den britischen Pass vorbereiten, verkaufen sich wie seit Jahren nicht.

Viele Zuwanderer fühlen sich plötzlich abgelehnt

Vor allem aber, sagt Alan, habe sich das Miteinander verändert. Zwar waren die Londoner noch nie die gesprächigsten. Aber wenn sich jeder dritte Stadtbewohnerfragen muss, ob der Busfahrer oder die Frau hinter dem Bankschalter es lieber sähe, wenn er zurück in seine Heimat ginge, verändert das die Atmosphäre. So wird die Entscheidung gegen die EU an vielen Stellen mit einer Trennung verglichen. Tatsächlich ist es ein bisschen wie Liebeskummer: Menschen, die euphorisch hergezogen sind, dafür ihre Heimat aufgegeben, hohe Mieten und lange Wege in Kauf genommen haben, fühlen sich abgelehnt.

Dem ersten Schock folgte die Wut, nun beginnt die Phase der Ernüchterung - die wenigsten der Menschen, die Alan Ali berät, wollen gehen. Aber abgekühlt hat sich ihr Verhältnis zu London. Da hilft es kaum, dass sich viele Londoner bei Freunden und Kollegen aus der EU für ihre Mitbürger entschuldigen und auf Demonstrationen zu Tausenden ihre Liebe zur EU mit Songs von Whitney Houston ("I Will Always Love You") untermalen oder mit Kampagnen wie "London is open" um ausländische Mitbürger und Unternehmen werben. Auch eine Petition, London zu einem EU-Stadtstaat im Staat zu machen, hat bereits 179 315 Unterzeichner, wirkt aber wie das symbolische Bekenntnis einer Minderheit.

Ob solche Botschaften reichen, um enttäuschte Zugezogene wiederzugewinnen, wird sich zeigen. Liebeskummer dauert schließlich auch immer ein bisschen. Dass es trotzdem funktionieren könnte, lässt ein Blick in die Geschichte vermuten. Denn der Gelehrte Johnson hat noch etwas anderes über die Stadt gesagt: "When a man is tired of London, he is tired of life" - frei übersetzt: Wer nicht mehr in London sein will, will gar nichts mehr vom Leben. Damit erklärte er aber keineswegs eine plötzliche Abneigung. Sondern warum er sich niemals vorstellen könne, die Stadt zu verlassen.

© SZ vom 02.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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