Umfrage:Sympathien für Europa wachsen dank Brexit

Umfrage: Eine Frau demonstriert in London für Europa - und gegen den Brexit.

Eine Frau demonstriert in London für Europa - und gegen den Brexit.

(Foto: AFP)
  • Eine Umfrage des renommierten IFOP-Instituts in Paris sieht eine "Neubewertung" der EU durch die Europäer.
  • "Klarer als in der Vergangenheit sind die Vorteile der EU-Mitgliedschaft sichtbar", sagt der Direktor.
  • Die Begeisterung für eine Vertiefung Europas ist allerdings eher mau.

Von Christian Wernicke, Paris

Der Bruch der Briten mit dem Kontinent lässt die übrigen EU-Völker näher zusammenrücken. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die nach dem Schock des "Brexit-Votums" die Stimmung in sechs EU-Staaten ergründet hat. Demnach bekunden Deutsche und Franzosen, Italiener wie Belgier, Spanier und Polen im Juli 2016 plötzlich wieder deutlich mehr Sympathien für das real existierende Europa. Doch Vorsicht, die Ergebnisse zeigen auch: Da entflammt keine neue Liebe zu Brüssel. Eher nüchtern erinnern sich die befragten Europäer des Nutzens ihrer EU.

Das renommierte IFOP-Institut in Paris, das Anfang Juli jeweils eintausend Bürger in sechs Ländern befragte, spricht von einer regelrechten "Neubewertung" der EU. "Klarer als in der Vergangenheit sind die Vorteile der EU-Mitgliedschaft sichtbar", glaubt Jérôme Forquet, der für Umfragen zuständige IFOP-Direktor. Dieser "Brexit-Effekt" werde auch getragen von dem Eindruck politischer Verwirrung und wirtschaftlicher Verunsicherung, die sich nach der Volksabstimmung vom 23. Juni auf der Insel breitmachte. In Auftrag gegeben hatten die Studie die "Fondation Jean-Jaurès", eine Stiftung, die Frankreichs regierenden Sozialisten nahesteht, sowie die "Europäische Stiftung für progressive Studien" mit Sitz in Brüssel.

Geradezu "spektakulär", so IFOP-Mann Fourquet, sei der "Brexit-Effekt" in Deutschland: 81 Prozent aller Deutschen - 18 Prozentpunkte mehr als im Januar 2014 - begrüßen aktuell die EU-Mitgliedschaft als eine "gute Sache". Ein ähnlicher Trend zeigt sich in Frankreich, wo nun 67 Prozent die EU-Zugehörigkeit befürworten (Januar 2014: 48 Prozent). In beiden Ländern, so Fourquet, seien es vor allem Wähler der Linken, die Europa neu schätzten. Einzig die Italiener zeigen sich vom Brexit wenig beeindruckt (plus vier Prozentpunkte).

Kurzfristig muss die EU keinen Dominoeffekt fürchten. Zwei von drei Franzosen und Italienern und sogar vier von fünf Deutschen, Polen und Spaniern würden in einer Volksabstimmung gegen einen Austritt votieren. Der Brexit schreckt ab - so sehr sogar, dass die sechs befragten Völker es mehrheitlich erst gar nicht riskieren wollen, ein Referendum über einen EU-Austritt ihres Landes zu veranstalten. Sozialforscher Fourquet erstaunt dieses Ergebnis: "Üblicherweise äußern die Bürger zu allen möglichen Themen den Wunsch, sie per Referendum zu konsultieren."

Getragen wird diese Stimmung vom momentanen Eindruck, der Brexit werde den Briten schaden. Davon sind zwei Drittel aller Deutschen (69 Prozent), Spanier (66 Prozent) und Belgier (65 Prozent) ebenso überzeugt wie eine Mehrheit der Polen (62 Prozent) und Franzosen (55 Prozent). Auch fast jeder zweite Italiener (46 Prozent) mutmaßt dies. Deshalb gilt momentan die Parole: Keine Experimente!

Nur, das kann sich auch wieder ändern: Aufstieg oder Niedergang der britischen Wirtschaft nach dem Brexit würden "einen enormen Einfluss auf die europäische Meinung haben", prophezeit Fourquet. "Großbritannien wird zum Testfall." EU-Enthusiasten wie Euroskeptiker werden das Experiment auf der Insel im Sinne ihrer Sache zu deuten versuchen.

Vorerst stärkt der "Brexit-Effekt" die Euro-Phoriker: Das Pfund fällt, der Rückhalt für die gemeinsame Währung steigt. In vier der fünf Euro-Länder sinkt die Zahl jener, die sich nach Mark, Franc oder Pesete zurücksehnen (siehe Grafik 3). Unter den Bundesbürgern fällt die Nostalgie für die D-Mark mit 33 Prozent auf ihren niedrigsten Wert seit 2011. Noch im Januar 2014 wollten 43 Prozent der Deutschen den Euro aufkündigen. Ähnlich entwickelt sich die Stimmung in Frankreich, wo jetzt 29 statt vorher 38 Prozent zurück zum Franc wollen.

Links wie rechts des Rheins bleibt die Euro-Phobie ein Gefühl am rechten Rand: Anhänger der AfD (73 Prozent) und des Front National (63 Prozent) möchten mehrheitlich raus aus dem Euro. Die gemeinsame Münze erweist sich als Damm gegen den Vormarsch der Rechtsextremen - denn die Wähler traditionell konservativer Parteien (CDU hier, Republikaner da) wollen nur zu 22 beziehungsweise 15 Prozent die Währungsunion sprengen. In Italien hingegen, wo trotz des Brexits die Zahl der Euro-Gegner weiter wächst (aktuell 43 Prozent), dominieren die Fans der alten Lira inzwischen unter den Wählern der reaktionären Lega Nord ebenso wie bei den Konservativen der Forza Italia und den Populisten der Fünf Sterne.

Was also soll Europa nun tun nach dem Brexit? In allen sechs Ländern zeigt sich eine deutliche Mehrheit bereit, "mehr Europa" zu wagen: Die Befragten befürworten die Idee, die Gründerstaaten der alten EG mit einer Initiative zur Vertiefung der EU-27 zu beauftragen. Auch Spanier und Polen tragen dies mit - obwohl ihre Regierungen nicht mit am Tisch säßen.

Das neue Wohlwollen gegenüber der EU zeigt sich - auf den ersten Blick - auch bei konkreten Vorschlägen. Eindeutig befürworten die befragten Bürger aller sechs Länder die Ideen, etwa einen europäischen Wirtschafts- und Finanzminister zu schaffen oder per Direktwahl aller Völker künftig einen EU-Präsidenten demokratisch zu küren. Auch die Gründung einer EU-Armee wollen die meisten - nur Deutsche und Spanier zögern hier.

Ein zweiter Blick lehrt freilich: Die Begeisterung für eine Vertiefung Europas ist eher lau. In fast keinem Land, so warnt IFOP-Direktor Fourquet, lasse sich mehr als ein Viertel der Befragten zur Aussage hinreißen, man "befürworte voll und ganz" eine der drei Ideen. Die Europäer bleiben vorsichtig. Und eher skeptisch.

Die Europäer wollen ihr gemeinsames Haus im Inneren festigen - aber nicht erweitern. Nach dem Brexit fällt die Neigung geringer denn je aus, die Türkei, die Ukraine oder weitere Balkanstaaten in die EU aufzunehmen. Man grenzt sich ab, auch gegenüber dem Noch-Mitglied Großbritannien: Nur die Polen erklären sich mehrheitlich bereit, konziliant mit den Briten um die Konditionen ihres EU-Auszugs zu verhandeln. Die übrigen Europäer wollen den Briten eine harte Kante zeigen. Und wünschen: keine Konzessionen!

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