WM-Halbfinale Brasilien vs. Deutschland:Spiel für die Ewigkeit

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Pathias, Ethos, alles rein: Brasiliens Fußballer und ihre Einlaufkinder (Foto: dpa)

In Brasilien ist alles angerichtet - vor allem emotional. Am Spielort in Belo Horizonte haben Mannschaft und Fans bereits das epische Achtelfinale gegen Chile gefeiert. Das Duell gegen Deutschland soll nun eines werden, das noch Jahrzehnte in Erinnerung bleibt.

Von Thomas Kistner, Belo Horizonte

Zwei Tage hat die Nation getrauert, jetzt holt sie tief Luft und wendet sich der Frage zu: Wem wird Felipão wohl in der Nacht auf Dienstag seine handgeschriebenen Brieflein unterm Türschlitz des Hotelzimmers durchschieben? Die väterliche Gute-Nacht-Aktion pflegt Luiz Felipe Scolari, der Mental- und Motivationscoach der Seleção, seit langem; vor jedem Spiel schickt er kleine Aufmunterungen an die elf Auserwählten seines Herzens, mit Sätzen wie "Der Pessimist beklagt den Wind, der Optimist hofft, dass er sich dreht, der Realist setzt die Segel" des britischen Theologen William George Ward.

Frischen Wind wird seine Seleção auf jeden Fall brauchen im Halbfinale gegen die Deutschen, nach dem Ausfall von Alleskönner Neymar und dem gelb-bedingten Fehlen von Kapitän Thiago Silva. Und sieh an, schon weht die erste steife Brise durch die Medien. Wie es so Brauch ist in diesem Fußball-Land voll verborgener Mystik und verkannter Talente, hält man sich in der Krise nicht allzu lange mit Fachfragen auf. Vielmehr wird mit vereinten Kräften all das beschworen, was schon einmal geholfen hat.

Deshalb taucht aus den Tiefen der reichen WM-Vergangenheit nun ein Hoffnungsträger auf, der mittlerweile 75 Jahre alt ist, beim Traditionsklub FC Botafogo in Rio de Janeiro sein Gnadenbrot als Repräsentant der lokalen Fußballschule fristet und jetzt gar nicht recht weiß, was ihm die Ehre verschafft; denn pausenlos klingelt sein Telefon: Amarildo Tavares da Silveira, genannt O Possesso, der Besessene.

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Amarildo war bei der WM 1962 dabei, nur für den Fall der Fälle, er war die Notbesetzung für Pelé. Als sich der Volksheld bereits im zweiten Gruppenspiel einen Muskelriss zuzog, war der Notfall da. Und Ersatzstürmer Amarildo vertrat den Zuschauer Pelé zumindest ebenbürtig. Beim 2:1 über Spanien im letzten Gruppenspiel schoss er sogleich die beiden Tore, im Finale egalisierte er schnell die Führung der Tschechoslowakei, Endstand 3:1 für Brasilien. Und neben dem Besessenen war in dem spektakulären Dribbler Garrincha dem Land ein neuer Star beschert worden.

Nun also suchen alle fieberhaft den "neuen Amarildo". Den Mann, der den erforderlichen Schneid beisteuern und dem Felipão die nächste Frohbotschaft unter der Tür durchschieben kann; wild schießen die Spekulationen ins Kraut. Wobei die neue Betriebsamkeit ja nur eine landesweite Umfrage bestätigt, nach der stolze 79 Prozent der Brasilianer glauben, die Seleção schaffe es auch ohne Neymar ins WM-Finale. Das lässt sich fast als Befreiung aus der bisher so lähmenden Abhängigkeit von einem einzigen Spieler deuten: Geht die WM für manchen erst jetzt richtig los?

Jedenfalls zeugt das Votum von Selbstheilungskräften, die auf zwei Faktoren basieren: dem Glauben, dass sich - wie es immer war - Brasiliens Fußballer aus der Not zu größeren Leistungen aufschwingen können als aus der Favoritenrolle. Und der Hoffnung. Die schließt den Kreis, gehofft wird auf Scolaris Magie als Motivator.

Zuzutrauen ist ihm ja vieles. Die eigenen Leute stark reden und den Gegner trickreich in die Irre führen, das sind die Spezialitäten des 65 Jahre alten Gurus der Nation. Teil davon war womöglich auch die kurzfristig in den Medien aufgeflammte Spekulation, die Ärzte prüften in Guarujá bei São Paulo, ob der heimgekehrte Neymar trotz Rückenverletzung aus dem Kolumbien-Spiel im Finale am Sonntag wieder antreten könnte. Der gebrochene Lendenwirbel "L3" sei der Wirbel, bei dem sich eine Verletzung am geringsten belastend auswirke. Mit einer strammen Dosis Schmerzmittel könne da noch was gehen, berichtete aufgeregt das Internetportal von Globo.

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Doch am Sonntagabend war die Schnapsidee verworfen; Neymar soll zwar schon in Belo Horizonte auf der Bank sitzen - aber nur als Glücksbringer. Geprüft, versichert Globo, hätte ein Ärzteteam diese Option jedoch durchaus. Das wirft ein grelles Licht auf das Kickergewerbe, das bei dieser WM ja nicht nur wegen des Büffelsprungs auf Neymar oder der Beißattacke des Uruguayers Luis Suárez einen Satz in Richtung Gladiatorenspiele gemacht hat.

Unklar ist vorerst, ob die Fifa bei künftigen Weltmeisterschaften Tollwut-Schutzimpfungen für Spieler vorschreibt und einen Veterinärmediziner anstellt. Ähnlich unklar ist auch noch, wer Felipãos neuer Amarildo sein darf. Beim Training im Camp Granja Comary in Teresopolis nahm Willian die Position Neymars ein, der ohnehin als sein Ersatz vorgesehene Techniker vom FC Chelsea. Eine Spielgarantie ist das zwar nicht, es könnte auch eine klassischen Felipão-Finte sein. Er hat ja weitere Optionen wie die, Oscar in die Gestalterrolle zu schicken und Hernanes als Absicherung einzubauen.

Die Überlegung, mit Bernard als drittem Stürmer loszulegen, erscheint Felipão zu kühn - obwohl ihm die linke Abwehrseite der Deutschen sehr gefällt, über die alle drei bisherigen WM-Gegentore entstanden sind. Da Scolari zwar ein großer Motivator, aber kein so großer Taktiker ist, spricht vieles für Willian: Bei so einem Tausch eins gegen eins muss er sein Team nicht komplett umbauen.

Bayern-Spieler Dante bildet wohl für den gesperrten Thiago Silva die Innenverteidigung mit dem neuen Kapitän David Luiz; auch Luiz Gustavo kehrt nach einer Gelb-Sperre als Abräumer zurück. Die zwei kennen den deutschen Fußball am besten; und Dante hat bereits gepetzt bei Felipão: Kapitän Philipp Lahm behage es gar nicht, wenn ihm ständig einer auf den Füßen steht. Den Job wird nun Hulk auf der linken Außenposition übernehmen.

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Die größte Hoffnung ruht auf David Luiz. Sympathieträger der Seleção ist er sowieso, die Kameraden nennen ihn den "Bürgermeister von Teresopolis". Niemand bedient die Fans vor und nach dem Training geduldiger als der Wuschelkopf, der von der Fifa offiziell als bisher bester Spieler der WM geführt wird. Zweimal traf er in den letzten zwei Partien, seine Gegenspieler stellt er regelmäßig kalt. David Luiz ist der Gefühlsindikator in der Seleção, das verriet kein anderer als Neymar nach dem Achtelfinale: "Ich habe David gesagt, wenn er schwächelt, schwächelt auch das Team."

Ein wenig Balsam für die getretene Volksseele hat Scolari auch parat. Von seiner in der Pressekonferenz vorgetragenen Meinung, Kolumbiens Camilo Zúñiga habe keine Absicht getrieben, als er in Neymars Rücken sprang, ist er schon auf dem Rückflug aus Fortaleza dramatisch abgekehrt. Er gab Carlos Eugenio Lopes, Chefjustitiar des Nationalverbandes CBF, die Aufgabe, bei der Fifa nachträglich auf ein hartes Urteil zu drängen, das sich im Rahmen dessen bewegen soll, was Beißer Suárez auferlegt bekam: neun Spiele und vier Monate Sperre.

Die Fifa lehnte das am Montag ab. Alles ist - vor allem emotional - angerichtet im Land für eine Partie gegen Deutschland, die für Jahrzehnte in Erinnerung bleiben soll. In Belo Horizonte sieht sich die Seleção jetzt nicht mehr in der Favoritenrolle, dafür aber in Obhut einer Fangemeinde, der ja noch das epische Achtelfinalduell mit Chile (2:1) in den Schädeln brummt; es ist erst zehn Tage her, dass man gemeinsam frenetisch gefeiert hat. Das schweißt noch mehr zusammen.

Vielleicht wiederholt Felipão in seinem nächtlichen Brief diesmal ja einfach nur sich selbst: "Ihr werdet keine Probleme finden, ihr werdet Lösungen finden."

© SZ vom 08.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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