Kolumbien bei der Fußball-WM:Achtung, Geheimfavorit

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Bereit für die WM: James Rodríguez. (Foto: AP)
  • An diesem Dienstag um 14 Uhr startet Kolumbien in Saransk gegen Japan in die Fußball-WM.
  • Während die großen Fußballnationen reihenweise straucheln, wollen die Kolumbianer einen Lauf starten, der sie mindestens so weit führen soll wie 2014.
  • Ausgerechnet um Leistungsträger James Rodriguez vom FC Bayern gab es in den ersten WM-Tagen Aufregung.

Von Benedikt Warmbrunn, Kasan

Abends, wenn sich die Sonne in die Sümpfe rund um die Wolga hinabstürzt, kommen die Mücken. Wie Spione schwirren sie in kleinen, kompakten Schwärmen um ihre Opfer herum, sie scannen ihre Beine, ihre Arme, ihr Gesicht, ihre Augen. Sobald sie alles vermessen haben, stechen sie auch gerne zu und sammeln Blutproben. Erst wenn ihre Opfer aus dem Sumpfumland in ihre mondänen Unterkünfte geflüchtet sind, ziehen sich die Mücken zurück in ihre Büsche und an ihre Pfützen. Ihr Surren und Summen und Zischen bleibt jedoch. Vergesst die Kolumbianer nicht, surren und summen und zischen die Mücken, die Kolumbianer und ihr süßes, kolumbianisches Blut sind auch da.

30 Kilometer westlich von Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, liegt das Dorf Swijaschsk. Dort ließ Iwan IV. - auch bekannt als der Schreckliche - im 16. Jahrhundert eine Festung errichten, als Basis für den letzten Krieg gegen das Khanat Kasan. Heute hat Swijaschsk 276 Einwohner, wer eine Dreiviertelstunde lang von Kasan mit dem Auto gekommen ist, merkt kaum, dass er gerade daran vorbeigefahren ist. Außerhalb von Swijaschsk kommt noch mehr Sumpfland, dort liegt das Ski Resort Kasan, Quartier der Nationalmannschaft Kolumbiens, die geheim halten will, dass auch sie an dieser WM teilnimmt.

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Schweden kann auch ein Tor erzielen, wenn Zlatan Ibrahimovic fehlt: Andreas Granqvist schießt das Team gegen Südkorea zum Sieg - und sendet eine forsche Botschaft an den nächsten Gegner.

Von Benedikt Warmbrunn

Im Winter gibt es hier grüne, blaue und rote Pisten, insgesamt 2,8 Kilometer, auf einer beachtlichen Höhe von bis zu 160 Metern über Wolganull. In den Sommermonaten locken eine Schießanlage, ein Golfplatz mit neun Löchern und, versteckt hinter einem dürr begrasten Hügel, ein Fußballfeld.

An einem Nachmittag in der ersten WM-Woche, die Sonne lehnt sich dem Sumpfland entgegen, liegen 22 kolumbianische Nationalspieler auf dem Rasen, sie strecken die Beine in die Höhe, ziehen sie wieder heran, ein normales Aufwärmprogramm. Am Geländer drängen sich die Kamerateams, aufgeregt brüllen die Reporterinnen und Reporter in ihre Mikrofone hinein. James! Fehlt! Wieder!

An diesem Dienstag (14 Uhr) startet Kolumbien in Saransk gegen Japan ins Turnier, es ist die vorletzte Partie des ersten Spieltages. In der Abgeschiedenheit vor Kasan konnten die Kolumbianer beobachten, wie ein Favorit nach dem anderen strauchelte. Und während sie in den großen Fußballnationen über ihre eigenen Probleme nachdenken, wollen die Kolumbianer einen Lauf starten, der sie so weit führen soll wie bei der WM 2014, mindestens. Damals wurde Kolumbien erst im Viertelfinale von Gastgeber Brasilien gestoppt. Aus der Not heraus, wegen einer Verletzung von Torjäger Falcao, hatte Trainer José Pekerman ein System mit einer Spitze erdacht, das bis heute gilt. In Brasilien übernahm James die Rolle des Torjägers, mit sechs Treffern in fünf Partien wurde er Torschützenkönig. Und ausgerechnet um ihn gab es in den ersten WM-Tagen Aufregung.

Ein linker Kandidat für die Präsidentschaftswahl, Gustavo Petro, hatte mit einem Plakat geworben, auf dem sich James für ihn ausspricht, als einer, der die Armut selbst erlebt habe. James hat geschwiegen, aber James' Familie hat sich inzwischen von Petros Plakat distanziert. Zudem fehlte der Mittelfeldspieler des FC Bayern aufgrund von muskulären Problemen ein paar Tage lang im Training. Die Nation versetzte das in Angst und Schrecken. James ist der kreative Kopf des Teams, er und der wieder integrierte Falcao sind die einzigen Individualisten in einem Team, das sich auf das Gemeinsame eingeschworen hat. Eine erfolgreiche WM ohne James? Unvorstellbar.

(Foto: SZ-Grafik)

Eineinhalb Stunden nach dem Ende der Trainingseinheit schlurft Abel Aguilar in eines der Häuschen auf der Anlage des Resorts, die mit ihren weit nach unten gezogenen Holzdächern wie kaukasische Verwandte eines Chalets bei Chamonix wirken. Aguilar, 33, gilt als ergebener Pekerman-Schüler, er soll aber nicht nur dem Trainer dienen, sondern auch den Individualisten. James, indem er ihn auf dem Platz seine Freigeistigkeit ausleben lässt. Falcao, indem er ihn neben dem Platz bei Laune hält, die beiden haben als Zwölfjährige zusammengespielt.

In dem Chalet schwirren auf Aguilar nun die Fragen ein, die ihn so nerven wie die Mücken. Die Fragen nach Kolumbiens Zielen. "Wir müssen die Initiative zeigen, das charakterisiert uns als Auswahl." Und die Ziele? "Wir müssen zuversichtlich sein und zeigen, dass wir eine Mannschaft sind, die gut spielt und gewinnt." Und die Ziele? Aguilar räuspert sich. "Wir dürfen nicht in Exzesse an Selbstbewusstsein verfallen. Bei einer WM gibt es keine kleinen Rivalen. Wir können niemanden von oben betrachten. Wir müssen mit Demut handeln."

Die Fragen nach ihren Zielen meiden die Kolumbianer wie die Pfützen in der Abendsonne. Pekerman spricht ohnehin nur so viel, wie er sprechen will, also im Grunde genommen überhaupt nicht. Die Spieler bemühen sich, die Rolle als Geheimfavorit noch geheim zu halten. "Wir sind eine Auswahl, die auf dem Radar der anderen ist", sagt Carlos Sanchez, "diese WM wird anders sein als die in der Vergangenheit. Inzwischen bereiten sich die Teams anders auf uns vor. Es wird schwieriger werden." Es vergeht deshalb kein Tag auf der Ski- und Schießanlage, an dem nicht mindestens ein Kolumbianer betont, wie wichtig es sei, im Kollektiv zu denken. "Kolumbien hat große Individualisten, aber wir wissen, dass sie durch Teamarbeit gestärkt werden", sagt Carlos Bacca. "Wichtig ist, dass es zwischen uns keine Unterschiede gibt", sagt Sanchez, "wir haben alle die gleichen T-Shirts an." Das Gemeinsame, das ist ihr Mantra, das ihnen helfen soll, auch dieses Mal wieder die Welt zu überraschen.

Doch damit das auch gelingt, müssen die Mücken ihr Wissen noch ein bisschen länger in den Büschen versteckt halten.

© SZ vom 19.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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