Deutsche Nationalmannschaft:Generation Südafrika stößt an ihre Grenzen

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  • Die Niederlage des DFB-Teams gegen Mexiko wirft die Frage auf, ob das deutsche Team seine besten Tage hinter sich hat.
  • Den Kern von Löws Elf bilden nach wie vor jene Spieler, die bereits vor acht Jahren die WM in Südafrika bereicherten.
  • Vieles deutet darauf hin, dass es sich beim 0:1 um mehr handelt als um ein versehentlich verrutschtes Spiel.

Von Christof Kneer, Moskau

Joachim Löw kam später in die Pressekonferenz, er hörte nicht, was Juan Carlos Osorio sagte. Vermutlich wäre Löw auch nicht aufnahmebereit gewesen nach der Auftaktniederlage gegen Mexiko, er hätte die poetischen Sätze des Trainerkollegen gar nicht angemessen würdigen können. Man habe "aus der Liebe zum Sieg heraus agiert, nicht aus der Angst vor dem Verlust", sagte Osorio zum Beispiel und dankte "dem Herrscher da oben", der ihm "die Geduld gegeben" habe. Geduld wozu, das sagte er nicht, das war aber irgendwie egal, es klang wirklich toll. Dann sagte Osorio, man habe den Spielplan für den heutigen Abend "bereits vor sechs Monaten" beschlossen, was die Frage aufwarf, wen oder was die martialisch hochgerüstete DFB-Spionageabteilung in den vergangenen sechs Monaten eigentlich so beobachtet hat. "Außerdem haben wir heute vielleicht die Zukunft des mexikanischen Fußballs gesehen", sagte Osorio noch.

So jung ist Mexikos Elf übrigens nicht, aber der Satz reichte, um aus deutscher Sicht das Thema des Abends, vielleicht des Turniers zu benennen: Bei diesem 0:1 gab es höchstens jene Zukunft zu sehen, die der deutsche Fußball hinter sich hat.

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Das 0:1 gegen Mexiko zum WM-Start verdeutlicht, dass der Weltmeister mehr als nur ein paar Details gerade rücken muss - die Beteiligten schwanken zwischen Frust und gegenseitiger Kritik.

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"Wir haben keine zu alte Mannschaft, davon sind wir weit entfernt", sagte Löw später. Dieser Satz klang wie eine nachgeschobene Gegendarstellung, denn Sekunden zuvor hatte Löw noch behauptet, "eine insgesamt relativ junge Mannschaft" zu haben, was man insgesamt eher nicht sagen kann. Den Kern von Löws Elf bilden nach wie vor jene Spieler, die jung waren, als sie vor acht Sommern die WM in Südafrika rockten. Aber man mochte Löw die kleine Zeitverschiebung nachsehen, er musste sich erst sammeln an diesem Abend, an dem ja auch seine Elf massiv irritiert gewirkt hatte. Gerade die Zeitzeugen der Südafrika-Tage vermittelten den Eindruck, als hätten sie sich nie zuvor gesehen.

Das Gute am schlechten Auftritt? Das Turniermurksspiel haben sie jetzt schon hinter sich

Sami Khedira sauste dahin, wo ihn kein Kollege erwartete. Toni Kroos beschloss, lieber keinen voll anstrengenden Sprint anzuziehen, auch wenn der Sprint dem Mitspieler helfen könnte. Thomas Müller rannte überall rum, traf aber trotz seines einnehmenden Wesens nirgendwo Kollegen, die mit ihm Sport treiben wollten. Mesut Özil schlug einen Weg ein, den er gar nicht kannte - wie beim Gegentor, als er sich unvermittelt rechts hinten wiederfand, wo er acht Jahre nicht gewesen war. Interessant, so sieht's hier also aus, dachte Özil möglicherweise gerade, als ihn Mexikos Torschütze Hirving Lozano lässig ausspielte.

Und Mats Hummels und Jérôme Boateng dürften sich gewundert haben, in welchem Team sie da gelandet waren. Sie kannten das aus Dortmund, München und der deutschen Nationalmannschaft so, dass man als Verteidiger noch Spieler vor sich hat. Hier war das also nicht so?

Der amtierende Weltmeister Deutschland hat bei dieser WM eine schauderhafte erste und eine bessere zweite Halbzeit hinter sich, und bei der grundsätzlichen Qualität der Elf ist es nicht auszuschließen, dass die Spieler sich in vier Wochen beim Siegesumzug am Brandenburger Tor, durch dicke Sonnenbrillen grinsend, zurückerinnern: Weißt du noch, Jérôme oder Sami oder Mesut, wie uns nach dem ersten Spiel schon alle nach Hause schicken wollten?

Vielleicht ist dies das Gute am schlechten Auftritt: dass sie das klassische Turniermurksspiel gleich am Anfang hinter sich gebracht haben. Allerdings deuten viele Sätze dieses Abends darauf hin, dass es sich bei diesem 0:1 um mehr handelt als um ein versehentlich verrutschtes Spiel. "Wenn sieben, acht Spieler offensiv spielen, dann ist klar, dass die offensive Wucht größer ist als die defensive Stabilität", sagte Hummels, "das ist das, was ich intern oft anspreche. Das fruchtet anscheinend noch nicht ganz. Unsere Absicherung steht nicht gut, oft waren nur Jérôme und ich hinten. So haben sie uns gnadenlos ausgekontert." Man müsse "viel mehr sprechen", ergänzte Boateng, "diese mangelnde Abstimmung geht einfach nicht. Da laufen in deinem Rücken Leute weg, und keiner sagt was".

Wie gesagt: Das Team, das mehr sprechen muss, kennt sich seit acht Jahren.

Auf einer oberflächlichen Diskussionsebene war die Konteranfälligkeit das große Thema, aber diese Ebene allein muss der Nation nicht zwingend Sorgen machen. Löw und sein Trainerteam haben ja oft bewiesen, dass sie der Mannschaft mit seriösen Handgriffen auch Schwächen abtrainieren können. Besorgniserregend ist eher, was vor den Kontern kam: jene in Entstehung und Häufigkeit kaum fassbaren Ballverluste, die den Gegner zu seinen tausend Tempogegenstößen einluden.

"Fahrig" sei das Passspiel gewesen, monierte Löw, und die Raumaufteilung habe wieder nicht gestimmt: Die Elf habe die Breite des Feldes nicht genutzt und auf zu engem Raum gespielt, "der Gegner muss dann keine weiten Wege machen, um in die Zweikämpfe zu kommen, das macht es ihm leichter, uns den Ball abzunehmen".

Gegnerische Grätschen gelten mitunter als Verletzung der Denkmalschutzverordnung

Das hat er natürlich schön analysiert, der Bundestrainer, aber noch tiefer liegende Gründe hat er nicht geliefert, vielleicht, weil die Benennung dieser Gründe die Bevölkerung verunsichern könnte. Dass diese so wunderbar ballsichere, technisch exquisite Weltmeister-Elf neuerdings dauernd Bälle herschenkt, könnte das erste Zeichen allmählich einsetzender Überforderung sein. Im Moment wirkt es so, als seien die reiferen Herren der Generation Südafrika im Grenzbereich angekommen: Sie haben Mühe, die Geschwindigkeit junger, wilder Gegenspieler aufzunehmen, sie haben in den Weiten von Europas Fußballfeldern ein bisschen Denk- und Handlungsschnelligkeit eingebüßt. Die selbstverständlichen Dinge gehen nicht mehr so leicht vom Fuß, die Weltmeister geraten unter Druck, und unter diesem Druck rutscht ihnen dann ein unsauberer Pass oder schlampiger Laufweg raus.

Es ist nicht schlimm, älter zu werden, selbst ein Weltmeister darf das. Nicht gut ist allerdings, wenn offenbar keiner mit diesem Alterungsprozess kalkuliert hat, was die Verantwortung von der Mannschaft weg in Richtung des Trainers lenkt. Offenkundig hat Löw zu sehr darauf vertraut, dass alles schon so werden würde wie immer. Die sinkenden Formkurven vieler Spieler, die auf den letzten Drücker herbei trainierte Fitness mancher Leistungsträger, die Grummeleien nach der Özil/Gündogan-Debatte? Ach komm, im Trainingslager regeln wir das schon alles! Offenbar hat Löw sich nicht vorstellen können, dass es schon an der Zeit sein könnte, über alternative Schlachtpläne nachzudenken. Und jetzt hat er da eine Mannschaft, die immer noch im alten Weltmeister-Selbstverständnis auftritt und gegnerische Grätschen mitunter für eine Verletzung der Denkmalschutzverordnung hält.

"Wir müssen nun die Lehren ziehen und es im nächsten Spiel besser machen", sagte Löw. Der Trainer müsste seinen Kader eigentlich neu denken jetzt, aber er wird weiter auf bewährte Muster setzen. "Einen Plan über den Haufen schmeißen, das machen wir mal gar nicht", sagte er, "wenn wir die Dinge machen, die wir gut können, haben wir immer die Fähigkeiten, Spiele zu gewinnen." Auch der Trainer fühlt sich noch wie ein Weltmeister, und das ist nicht in jeder Hinsicht eine gute Nachricht.

© SZ vom 19.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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