Fußball: Nationalmannschaft:Im Geiste der Ahnen

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Vor der Partie in Russland berufen sich die Deutschen auf ihre traditionelle Stärke in Schicksalsspielen. Der fremde Untergrund in Moskau soll daran nichts ändern.

Philipp Selldorf

Sie betraten den Platz zaghaft wie Seeleute eine fremde Insel voller Urwald, und die ersten Spieler, die es nach dem Einlaufen wagten, sich einen der mitgebrachten Bälle zuzuschieben, waren die Mittelfeldleute Bastian Schweinsteiger und Piotr Trochowski. Sie traten so vorsichtig gegen die Plastikkugel, als ob sie zerbrechlich wäre, was natürlich nichts mit dem Ball zu tun hatte, sondern mit dem Boden, auf dem er bewegt wurde: jenem mittlerweile im ganzen Land, vermutlich sogar auf der ganzen Welt berühmten Kunstrasen, den die Jugendteams des FSV Mainz 05 für ihr Training nutzen - und der bekanntlich gemäß Fabrikat und Beschaffenheit ein Verwandter jenes Kunstrasens ist, der den Deutschen am Samstag im Moskauer Luschniki-Stadion als Spielfläche dienen wird.

Die nächste Generation: Mesut Özil, Marko Marin und Jerome Boateng (von links nach rechts) testen den neuen Untergrund. (Foto: Foto: dpa)

"Ein Gewöhnungsprogramm mit leichter Ballarbeit" hatte Joachim Löw für diesen Dienstagvormittag verordnet, es erscheint also nicht übertrieben, dieses Training der Nationalmannschaft am Mainzer Bruchweg als Expedition in eine neue Fußballwelt zu bezeichnen. Schließlich musste sogar der größte Weltmann der Mannschaft, der in London ansässige Kapitän Michael Ballack, seine Unkenntnis der Materie gestehen.

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Nein, erzählte Ballack gegen Mittag, mit Kunstrasen habe er in seiner langen Karriere kaum einmal relevante Erfahrung gesammelt. Zwar verfügt selbstredend auch der FC Chelsea über ein Kunstrasenfeld, doch das scheint eher als Hubschrauberlandeplatz für den Eigentümer Roman Abramowitsch verwendet zu werden. Die Profis frequentieren es bloß im Fall von Minusgraden, und "Frost kommt ja wirklich selten vor in London", gab Ballack zu bedenken. Darüber hinaus wirkte der neuerdings 33 Jahre alte Mittelfeldchef nicht ernsthaft begeistert von der Aussicht auf diese späte Lebenserfahrung. Während seiner Ausführungen verzog er das Gesicht, als seien die Bedingungen dieses Spiels, das über Sein oder Nicht-Sein bei der WM 2010 mindestens mitentscheidet, eine schwere Zumutung.

Dennoch schloss er seine Betrachtungen mit einem versöhnlichen Fazit ab. "Aber er ist eben, und im Großen und Ganzen rollt der Ball - er hat also nicht nur Nach-, sondern auch Vorteile", bilanzierte Michael Ballack höflich, denn die Chefs der Mission haben beschlossen, dass der Wettbewerbsvorteil des Gegners auf keinen Fall dezidiert erörtert werden soll. Der DFB-Teammanager Oliver Bierhoff spricht sogar vorbeugend von einem "Tabuthema".

Probleme bei der Schuhwahl

Nicht zuletzt der Schuh-Doktor des DFB wird diesen Befehl mit Bangen hören. Spezialist Manfred Drexler ist mit Erfahrung noch aus den Zeiten des Teamchefs Franz Beckenbauer gesegnet, aber auch er ist noch ohne Kunstrasenpraxis: Dabei gilt gerade die Schuhwahl für den mutmaßlich regennassen Untergrund in Moskau als heikles Unterfangen, für Torwart Rene Adler ist sie sogar "entscheidend - wegen des richtigen Abdrucks beim Absprung".

Löw will das Kapitel jedoch bald schließen: "Wir werden uns umgewöhnen müssen, aber wir werden das auch schaffen. In zwei, drei Tagen wird das kein Thema mehr sein", hat er verfügt, weil er nicht möchte, dass die Deutschen vor ihrem Gegner Unsicherheit zu erkennen geben. Ihr Selbstbewusstsein soll nach innen und nach außen wirken, das soll ihr Wettbewerbsvorteil sein. Und der muss nicht mal künstlich herbeigeredet werden.

"Durch nichts und niemanden" werde man sich aus der Ruhe bringen lassen, verspricht der Bundestrainer und beruft sich dabei auf die vielen erfolgreich bestrittenen Schicksalsspiele in der deutschen Fußballgeschichte. Diese Überlieferung der Ahnen hat auch die aktuelle Mannschaft längst verinnerlicht, Spuren der altdeutschen Tradition hat man bei der Europameisterschaft 2008 erlebt und zuletzt auch beim 2:1 gewonnenen Hinspiel gegen Russland.

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Guus Hiddink, der kosmopolitische Trainer der russischen Mannschaft, kann über diese Eigenart nur staunen: "Seit den Zeiten von Bismarck", hat er dem Spiegel geklagt, hätten sich die Deutschen angewöhnt, solche großen Partien kraft ihrer Überzeugung für sich zu entscheiden. Erst neulich hat er dieses eigentümliche Selbstbewusstsein bei einem Zusammentreffen mit Ballack in London erprobt: "Er war felsenfest davon überzeugt, dass Deutschland das Unentschieden holen wird, das sie brauchen."

Hiddink hat nicht mal übertrieben. So unwohl dem deutschen Kapitän beim Thema Kunstrasen zu sein scheint - über die selbstgewisse Fußball-Mentalität der Deutschen könnte er Erweckungsvorträge halten: "Da zu sein, wenn es drauf ankommt - das ist einfach das, was uns auszeichnet", schwärmt Ballack.

Ballacks Appell an die Stürmer

Von dieser Fähigkeit zur inneren Sammlung in den Tagen der Entscheidung würden sogar die torlosen Angreifer Mario Gomez, Miroslav Klose, Lukas Podolski und Cacau profitieren, hat Ballack beschlossen. "Es wird ein schweres Spiel, aber wir brauchen jetzt nicht anzufangen zu zweifeln und die Minuten zu zählen, die sie nicht getroffen haben." Den Betroffenen rät er, einfach ihre Treffer-Statistik zu studieren, "dann wächst das Selbstvertrauen bis Samstag".

Aus Ballacks gelassener Sicht ist die richtige Vorbereitung auf das große Spiel im Grunde nicht mehr als eine Ingenieursleistung: "Kräfte bündeln und Motivation hochfahren", hat der Kapitän seiner Mannschaft verordnet. Einfach ein paar Knöpfe und Schalter bedienen, mehr nicht. Guus Hiddink wird es mit Schrecken hören.

© SZ vom 07.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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