Fußball-EM:Das Trauma ist besiegt

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Er sitzt: der letzte Schuss von Jonas Hector. (Foto: AFP)

Mit dem 18. Elfmeter schießt Jonas Hector die deutsche Nationalelf ins EM-Halbfinale. Der Italien-Fluch ist tatsächlich überwunden.

Von Ulrich Hartmann, Bordeaux

Joachim Löws Nerven wirkten nicht besonders strapaziert. "Dramatik bis zum letzten Schuss", hatte der Bundestrainer beobachtet, aber er berichtete davon mit der Gelassenheit eines Nachrichtensprechers. Zwei Mannschaften "auf taktisch unglaublich gutem Niveau" hatte er 120 Minuten lang gesehen, aber während einigen der deutschen und italienischen Fußballern im anschließenden Elfmeterschießen das Herz in die Hose gerutscht war, blieb Löw gelassen.

Vermutlich, weil er noch etwas vorhat. "Natürlich wollen wir jetzt mehr", sagte er. Dramatik bis zum allerletzten Schuss der ganzen Europameisterschaft ist genau das, was er sich vorstellt.

Viel spannender geht es allerdings nicht mehr. Sogar im Elfmeterschießen war es am Samstagabend in Bordeaux in die Verlängerung gegangen. 18 Elfmeter waren notwendig. "Das hat zu diesem Spiel gepasst", sagte der Torwart Manuel Neuer hinterher, "ein Nervenkrieg." Nachdem Treffer von Mesut Özil (65.) und Leonardo Bonucci per Handelfmeter (78.) während des Spiels keine Entscheidung gebracht hatten, musste der Sieger vom Punkt ausgeschossen werden. Jonas Hector verwandelte um 23.49 Uhr den neunten deutschen Elfmeter zum 6:5 und schoss Deutschland ins Halbfinale.

"So ein Elfmeterschießen habe ich noch nicht erlebt"

Zuvor hatten Toni Kroos, Julian Draxler, Mats Hummels, Joshua Kimmich und Jerôme Boateng für Deutschland getroffen. Für die Italiener hatte Simone Zaza über das Tor und Graziano Pellè daneben geschossen. Leonardo Bonuccis und Matteo Darmians Elfmeter parierte Neuer. "So ein Elfmeterschießen habe ich noch nicht erlebt", sagte Neuer, "ein Drama." Thomas Müller war an Gianluigi Buffon gescheitert, Mesut Özil hatte bloß den Außenpfosten getroffen und Bastian Schweinsteiger schoss übers Tor, als er mit dem fünften deutschen Elfmeter bereits alles hätte klar machen können.

Der Fluch ist damit besiegt. Da hatte Löw vor dem Spiel ein "Italien-Trauma" noch so entrüstet von sich weisen können. Der erste deutsche Sieg gegen die Azurblauen im neunten Spiel eines großen Turniers und besonders nach den Niederlagen 2006 im WM-Halbfinale und 2012 im EM-Halbfinale befreit die deutschen Fußballer von einer historischen Last. Weiter geht es am Donnerstag ohne den gelbgesperrten Mats Hummels in Marseille gegen Frankreich oder Island.

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Der Torwart wird zum Helden und erklärt seine Gefühlslage im Elfmeterschießen. Jonas Hector ringt nach Worten. Die Reaktionen.

Was die Deutschen mit einer Dreierabwehrkette gegen taktisch identisch formierte Italiener im Spiel erwartet hatte, spürte Neuer nach vier Minuten, als er für seinen ersten Abstoß keinen freien Spieler fand. "Dass der Weltmeister gegen uns sein System verändert, zeigt, wie viel Respekt die Deutschen vor uns hatten", sagte der italienische Trainer Antonio Conte später.

Ein Gegentor wussten die Deutschen zunächst zu verhinden, aber schwer wog die frühe Auswechslung von Sami Khedira in der 15. Minute. Fünf Minuten zuvor hatte er sich die Adduktoren gezerrt beim Versuch, Giorgio Chiellini aus dem Weg zu springen. Schweinsteiger wurde im fünften Spiel zum vierten Mal eingewechselt. Er übernahm Khediras Position und dessen Kapitänsbinde.

Schmerzlich nahmen Löws Männer wahr, dass sie trotz des Wissens um die italienische Spielart zunächst keine Lösungen fanden. Flanken aus dem Halbfeld schienen probat, blieben aber wirkungslos. Die beste Chance hatte Italiens Stefano Sturaro, als er kurz vor der Pause einen Rebound vorbeischoss.

In vielerlei Hinsicht scheiterten auf beiden Seiten bessere Chancen an mangelnder Präzision. Dieses Spiel war Feinmechanik, allerdings erhöhten die Italiener alsbald den Robustheitsfaktor. Binnen dreier Minuten sahen Stefano Sturaro, Mattia de Sciglio und Marco Parolo Gelb.

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Auch daran war zu abzulesen, dass die Deutschen die Dominanz erhöhten. Sie suchten ihre Chance und fanden sie in der 65. Minute nach einem brillanten Pass vom linksaußen weilenden Gomez auf den in der Mitte laufenden Hector. Der Kölner verlängerte an den Fünfmeterraum, an dem Mesut Özil zum 1:0 vollendete. In den italienischen Schockzustand hinein wollte sich Özil drei Minuten später revanchieren, sah Gomez nach einem Lupfer in den Strafraum aber frei vor Gianluigi Buffon vergeben. Vier Minuten später griff sich Gomez an den Oberschenkel und machte Platz für Julian Draxler.

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Es deutete nichts darauf hin, dass den Italienern der Ausgleich bevorstand, als Boateng in der 77. Minute hinter Chiellini mit irrational erhobenen Händen zu einem Kopfballduell im eigenen Strafraum emporstieg. Von Chiellinis Schädel sprang der Ball an Boatengs Hand, was dem ungarischen Schiedsrichter Viktor Kassai wenig Interpretationsspielraum bot.

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"Eine unglückliche Aktion", sagte Löw, "ich hatte nicht das Gefühl, dass die Italiener den Ausgleich sonst hätten erzielen können." In der 78. Minute verwandelte Bonucci den Elfmeter zum 1:1. Erstmals musste Neuer bei dieser EM einen Ball aus dem Netz holen.

Der Fluch schien zurückkehren zu wollen, aber so ist das in jedem Gruselfilm. Gemein hatte das Spiel mit dem Genre überdies, dass die Spannung auf die Spitze getrieben wurde. Zum Showdown ging es in ein denkwürdiges Elfmeterschießen. "Es ist ein Schande, auf diese Art und Weise auszuscheiden", sagte Conte. Es war sein letztes Spiel als Nationaltrainer Italiens.

© SZ vom 03.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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