DFB-Elf im Trainingslager:Löw wagt es mit den Strapazierten

Lesezeit: 4 min

Na, dann machen wir mal in Optimismus: Bundestrainer Joachim Löw (Mitte) mit Bastian Schweinsteiger (links) und Fitnesstrainer Chad Forsythe im Trainingslager. (Foto: dpa)

Der Bundestrainer hat eine Entscheidung getroffen: Joachim Löw will mit allen Prominenten, die Form und Fitness gerade suchen, zur Fußball-WM der Strapazen nach Brasilien reisen. Es ist eine bemerkenswerte Kehrtwende.

Von Christof Kneer, St. Leonhard

Ohne den Fußball wäre die deutsche Sprache um einige schöne Bilder ärmer. Zum Beispiel gäbe es ohne den Fußball mit Sicherheit kein WM-Ticket, und es gäbe auch keinen WM-Zug, auf den einer aufspringen kann, allerdings nur, wenn er zuvor das WM-Ticket gelöst hat. Je näher ein Turnier rückt, desto mehr wird Deutschland zu einer Republik voller Schaffner, die am liebsten ständig die Fahrkarten sehen würden. Es ist das alte, beliebte Spiel in der Vorbereitung: Wer darf mit zum Turnier, wer muss vorher aussteigen?

Joachim Löw hat der Republik am Montag ein bisschen den Spaß verdorben, man kann das nicht anders sagen. Am sechsten Tag des Trainingslagers im Südtiroler Passeiertal hat der Bundestrainer erstmals zur Nation gesprochen, es war eine Rede, in der die Begriffe "WM-Ticket" und "WM-Zug" nicht fielen, was aber nur aus sprach-ästhetischer Sicht bedauerlich war. Im übertragenen Sinne fielen die Begriffe sehr wohl.

Joachim Löw hat am sechsten Tag des Trainingslagers bereits offizielle WM-Tickets ausgestellt: Demnach werden Manuel Neuer, Philipp Lahm, Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger auf jeden Fall den Zug nach Brasilien nehmen. "Sie werden alle bei dieser WM gesund und fit sein", beschloss Löw am Dienstag.

Eklat nach Pokalfinale
:Löw ermahnt Großkreutz wegen Pöbelei

Kevin Großkreutz muss sich von Bundestrainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff wegen erneuter Eskapaden deutliche Worte anhören. Der Dortmunder soll in Berlin in eine Hotellobby uriniert haben - seine Entschuldigung folgt prompt.

Wie es um die Nationalmannschaft zurzeit bestellt ist, kann man schon daran erkennen, dass es dieser Satz inzwischen in den Rang einer Nachricht gebracht hat. Dass Schweinsteiger zum Kader zählt, ist unter normalen Umständen so selbstverständlich wie die Tatsache, dass Kevin Kuranyi nicht dazugehört. Unter den aktuellen, nicht sehr normalen Umständen ist Löws frühe Festlegung aber durchaus bemerkenswert.

Er hat viele Monate damit verbracht, der Veranstaltung in Brasilien eine Art spezielles Upgrade zu verpassen: Eine "WM der Strapazen" werde das, hat Löw schon im Herbst angekündigt und das im März mit der markigen Ankündigung verbunden, nur Spielern das sogenannte Ticket auszuhändigen, die nicht hundert-, nicht zweihundert-, nicht dreihundert-, sondern mindestens tausendprozentig fit seien. Dem Spieler Khedira hat er eine Hintertür eingebaut; es gebe Spieler, so Löw, die "einen Mehrwert für die Mannschaft" hätten, auch wenn sie nur 80 oder 90 Prozent Fitness zu bieten hätten.

Das klang alles vernünftig, alles verständlich. Die Nachricht dieses Montags war nun aber, dass die Hintertür zum Vordereingang geworden ist.

Joachim Löw hat eine Entscheidung getroffen. Er hat sich entschieden, der Besonderheit der Umstände eine demonstrative Normalität entgegenzuhalten. Ja, das Turnier wird körperlich fordernd und zehrend werden, und ja, er hat einige Leistungsträger, denen ihre Körper gerade nicht so richtig gehorchen - trotzdem wird sich Löw den Luxus leisten, diesen Körpern zu vertrauen.

Zuletzt war ein deutliches Raunen zu vernehmen gewesen, wonach der 2. Juni vor allem für Schweinsteiger ein bitteres Datum werden könnte; jener Tag, an dem Löw seinen 26er-Kader auf 23 Spieler verschlanken muss. Denn die Frage, die das Raunen grundierte, war ja diese: Würde Löw es wagen, sich im Herzen des Spiels neben einem Unter-100-Prozent-Khedira auch noch einen Unter-100-Prozent-Schweinsteiger im Kader zu halten - zumal Philipp Lahm, eine Art Weltklasse- Alternative auf dieser Position, zurzeit ebenfalls weit unter hundert Prozent liegt?

Die Antwort, die Joachim Löw an diesem Montag gab, ist von verblüffender Einfachheit. Ja, er wagt es.

Natürlich hat Löw keinen Grund, zum Beispiel Philipp Lahm zu misstrauen, der Kapitän ist ohnehin seine geringste Sorge. Lahm ist ein Spieler, der auch mit einem Schuh noch genügend Spielintelligenz aufweist, um mit Spielern mit zwei Schuhen mitzuhalten, und er wird am Dienstag auch wieder ins Lauftraining einsteigen. Löw hat auch gute Gründe, auf Manuel Neuer zu warten, weil es zumindest auf dieser Welt nicht viele bessere Torhüter gibt, und die Torhüter der anderen Welten möchte man auch erst mal sehen.

Auch Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger haben ihre Wettkampfhärte oft bewiesen, dennoch muss Löw nun damit leben, dass die Taten von heute an den Worten von gestern gemessen werden. Die Häufung der Fälle ergibt ein Signal - es ist ein Signal, das jenen Signalen, die Löw kürzlich noch aussendete, markant widerspricht. Löw will der WM der Strapazen mit einem Kader der Strapazierten entgegenreisen.

Joachim Löw hat die Wahl zwischen zwei verschiedenen Sorten von Risiko, und er ist der Meinung, dass sein Risiko das geringere ist. Löw hat die jungen Spieler im Kader zwar gründlich gelobt am Montag, aber er hat auch gesagt, "dass da schon noch ein Lernprozess stattfinden" müsse. Aus den besonderen Umständen in Brasilien hat Löw den Schluss gezogen, dass der klare Kopf der Routiniers dort mindestens genauso wichtig ist wie der kraftstrotzende Körper der Jungen.

Es ist Löws gutes Recht, öffentlich auf Deeskalation zu setzen, aber angesichts seiner prominenten Krankenfälle bleibt ihm dabei nichts mehr anderes übrig, als Fitness neu zu definieren. Er muss einstweilen mit allerhand Spitzfindigkeiten argumentieren; in Brasilien brauche er Spieler, die "widerstandsfähig und willensstark" seien, so Löw, unter diesem Dach haben auch Schweinsteiger und Khedira Platz.

Es sei "schon wichtig, auf Spieler zu zählen, die zu hundert Prozent fit sind", sagt Löw, der im Januar noch einen regelmäßigen Spielrhythmus in der Rückrunde zur nicht verhandelbaren Turnier-Voraussetzung gemacht hatte und im März immerhin noch eine ungestörte WM-Vorbereitung. Nun, Ende Mai in Südtirol, sagt Löw, "mindestens zwei bis drei Tage" vor einem wichtigen Spiel sollten die Spieler schon "das Mannschaftstraining absolviert haben".

Er habe "einige Berichte gelesen, dass wir in einem Lazarett sind", sagte der Bundestrainer am Montag in freundlicher Missbilligung, "aber dem ist nicht so". Das hier, meinte Joachim Löw, sei "scho' au ein Trainingslager".

© SZ vom 27.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: