Wahlen in Nordrhein-Westfalen:Regieren, mit nur einer Stimme Mehrheit. Geht das?

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Kiel, 17. März 2005: Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) scheitert. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters)
  • In NRW wollen CDU und FDP eine Koaltion bilden - mit nur einer Stimme Mehrheit.
  • Das kam in deutschen Landesparlamenten bislang vier Mal vor: 1975 und 2005 in Schleswig-Holstein, 2006 in Mecklenburg-Vorpommern und 2014 in Thüringen.

Von Detlef Esslinger und Cornelius Pollmer

Wollen CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen dies tatsächlich riskieren: eine Koalition bilden, die im Landtag nur über eine Stimme Mehrheit verfügen würde? Die 72 Mandate der CDU und die 28 Mandate der FDP ergäben ein Bündnis aus 100 Abgeordneten; die Opposition aus SPD, Grünen und AfD käme auf 99. Eine solche Koalition stünde vor zwei Herausforderungen: Zuerst müsste die Wahl des CDU-Spitzenkandidaten Armin Laschet zum Ministerpräsidenten gelingen. Sodann sollte diese Mehrheit fünf Jahre lang halten. Dazu müssten alle 100 Abgeordneten Koalitionsdisziplin permanent als Wert an sich begreifen. Ein-Stimmen-Mehrheiten kommen in Deutschland selten vor; die Archive erinnern an vier Fälle - mit vier unterschiedlichen Verläufen.

Schleswig-Holstein 1975: Die Wahl des Ministerpräsidenten gelingt, und die Mehrheit hält. Die CDU-Fraktion bestand aus 37 Abgeordneten, die Opposition aus SPD, FDP und Südschleswigschem Wählerverband (SSW) kam auf 36 Mandate. CDU-Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg hielt sich nicht nur die gesamte Wahlperiode, sondern er setzte auch äußerst umstrittene Projekte durch, so den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf. Er war in der CDU die einzige und unumstrittene Autorität.

Reaktionen
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Schleswig-Holstein 2005: Die Mehrheit zerfällt schon bei der Wahl der Ministerpräsidentin. Heide Simonis (SPD) regierte bereits seit zwölf Jahren, doch nun, nach der jüngsten Wahl, hatte Rot-Grün nur noch 33 Mandate; die Opposition von CDU und FDP kam auf 34. Aber die beiden Abgeordneten des SSW versprachen, die Koalition zu tolerieren. Simonis hatte also Grund zu der Annahme, mit 35 gegen 34 Stimmen gewählt zu werden. Was dann passierte, ging in die Parlamentsgeschichte ein. In vier Wahlgängen kam die Amtsinhaberin immer nur auf 34 Stimmen, dann gab sie auf. SPD und CDU rangen sich zu einer großen Koalition durch. Wer es war, der in allen Probeabstimmungen für Simonis stimmte, im Plenum aber nie, blieb unbekannt. "Heide-Mörder" ist seither ein stehender Begriff; die Person dürfte keinen Wert darauf legen, ihr Geheimnis zu lüften.

In Mecklenburg ging der Ministerpräsident das Risiko nicht ein. In Thüringen hält's - noch

Mecklenburg-Vorpommern 2006: Der Ministerpräsident traut dieser Mehrheit nicht. Harald Ringstorff (SPD) hatte bereits acht Jahre lang mit der PDS (wie die Linke damals hieß) regiert; nun, nach der Wahl, war die Mehrheit dieser Koalition auf einen Sitz geschrumpft. So weitermachen oder in einem Bündnis mit der CDU auf eine Mehrheit von neun Mandaten kommen? Ringstorff entschied sich für letzteres. Er wollte "stabile Verhältnisse", und er zweifelte, dass die mit der PDS zu haben seien. In der Koalition hatte es bereits Ermüdungstendenzen gegeben, und nun bildete sich in der PDS auch noch die Arbeitsgemeinschaft "Antikapitalistische Linke" - ihr gehörten drei Abgeordnete an.

Thüringen 2014: Die Wahl des Ministerpräsidenten gelingt im zweiten Versuch, und noch hält die Mehrheit. Kein Fall aus dem Archiv, sondern aus der Gegenwart. Nach der Landtagswahl verabredeten Linke, SPD und Grüne eine Koalition; die SPD wollte raus aus dem Bündnis mit der CDU. Der designierte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) brauchte zwar einen zweiten Wahlgang, aber in dem kam er auf exakt jene 46 von 91 möglichen Stimmen, die Rot-Rot-Grün damals hatte.

Bald erreichte die Koalition eine fast befremdliche Geräuschlosigkeit. Das lag an Ramelow, der umgehend betonte, als Ministerpräsident der Repräsentant einer Koalition von drei Parteien zu sein, und nicht ein Vertreter der Linken in der Staatskanzlei. Viel Kommunikation, rechtzeitige Abstimmung potenzieller Bruchstellen - die Staatskanzlei als Schnittstelle aller Partner und als Ort, an dem Aufmerksamkeit und Redezeit nicht nach Wahlprozenten verteilt werden, gilt noch heute als Erfolgskriterium der Koalition.

Im vergangenen Jahr schien sie endgültig in der Laufruhe angekommen zu sein: Ein Abgeordneter der AfD, der mit Björn Höcke gebrochen hatte, wechselte zur SPD und erhöhte dadurch die Stimmenmehrheit von 1 auf 2. Anfang Mai aber ist die Koalition in ihre dritte Phase eingetreten. Eine SPD-Abgeordnete wechselte aus fast heiterem Himmel zur CDU. Zur Begründung führte sie "die dogmatisch-ideologischen Führungskader der Linken" an.

Bitter genug dürfte der Geschmack sein, die wieder auf eine Stimme geschrumpfte Mehrheit nun einem ehemaligen AfD-Mann zu verdanken. Noch herber die Aussicht, mit dieser neuen Konstellation nun das kritischste Projekt angehen zu müssen, die Gebietsreform. Wenn man sich umhört, wie wahrscheinlich eine Mehrheit der Koalition dafür ist, liegt die Zahl der Antworten mit Sicherheit über der der Gefragten. Einigkeit besteht allenfalls darüber, dass ein Scheitern wohl auch das Ende der Koalition bedeuten würde.

© SZ vom 18.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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