2012:Schlüsseljahr im Wettbewerb der Systeme

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Selten hatte die Welt in einem Jahr vier derart hochkarätige Machtentscheidungen vor sich. Die Wahlen und Führungswechsel in Russland, Frankreich, China und den USA werden Aufschluss geben über die Stärke dieser Staaten und ihrer Systeme.

Stefan Kornelius

2011 war das Jahr der Revolutionen, der Wutbürger und der Protestbewegungen, die sich allesamt auf Kernwerte des Westens beriefen: Demokratie, Transparenz, Verantwortlichkeit. 2012 wird zeigen, wie es um diese Werte wirklich steht. Denn 2012 ist ein besonderes Testjahr für die Demokratie.

2012 ist ein besonderes Testjahr für die Demokratie - gerade auch in Russland. Im Bild: Ein Plakat bei einer Demonstration gegen den russischen Regierungschef Putin, der gute Chancen auf den Sieg bei der Präsidentschaftswahl im März 2012.  (Foto: REUTERS)

Mithin ist es ein Schlüsseljahr im Wettbewerb der Systeme, der immer mehr vom Duell zwischen China und den USA bestimmt wird. Es geht um Demokratie gegen Autokratie, Basisbewegung gegen Steuerung von oben, Offenheit gegen Mauschelei.

Der Kalender bietet vier, möglicherweise fünf Gelegenheiten, zu denen sich die politischen Systeme offenbaren. Die Wahlen oder Führungsentscheidungen in Russland, Frankreich, China und den USA werden Aufschluss geben über die Stärke dieser Staaten und ihrer Systeme. Wenn die ägyptische Militärregierung ihre Zusage einhält, könnte das Land ebenfalls in freier Wahl einen Präsidenten bestimmen - eine Zäsur im arabischen Revolutionszyklus.

Durchhalten Europas hängt von Wiederwahl Sarkozys ab

Jede dieser Entscheidungen ist für das jeweilige Land selbst von immenser Bedeutung, wirkt aber auch auf die Nachbarschaft oder gar die Welt. Die Durchhaltefähigkeit des krisengeschüttelten Europas wird von der Wiederwahl Nicolas Sarkozys abhängen. Seine wichtigsten Konkurrenten, der Sozialist François Hollande und die Rechtspopulistin Marine Le Pen, haben Widerstand gegen die Euro-Rettung angekündigt. Eine Präsidentin Le Pen könnte der europäischen Integration gar einen vernichtenden Stoß versetzen.

Auch für Deutschland ist diese Wahl also schicksalhaft. Das Überleben des Euro wird hier (wieder einmal) entschieden. Und erneut zeigt sich, wie unfertig diese Union der Europäer ist, wo eine Nation über die Geschicke des Kontinents bestimmen kann, ohne dass die Bürger all der anderen Nationen ihre Stimme erheben.

Polit-Oligarch Putin geht hohes Risiko ein

In Russland geht Polit-Oligarch Wladimir Putin mit seiner zweiten Macht-Rochade ein hohes Risiko ein. Das Land steht vor seinem vielleicht wichtigsten Demokratie-Test. Der Ministerpräsident und sein kastrierter Präsident Dmitrij Medwedjew haben eine Potemkin-Demokratie errichtet, mit Schein-Parteien und Schein-Pluralismus, aber selbst dieser Zustand provoziert noch die Kontrollsucht Putins.

Das Volk reagiert wütend, kann seinen Zorn aber nicht demokratisch kanalisieren. Die Spannung wird sich entladen - aber wie? An Putin wird sich entscheiden, ob Russland den westlichen Weg einschlägt oder wieder in die autokratische Steinzeit zurückfällt.

China will wohlwollende Autokratie demonstrieren

Die chinesischen Kader wollen hingegen den Beweis erbringen, dass ein Führungswechsel in einem autokratischen System nicht schlechter sein muss, dass ein Machttausch von oben verordnet und dennoch zum Wohl des Volkes ablaufen kann. Wer aber gibt ihnen das Recht? Wer legitimiert sie? Zwei Kräfte fordern das Modell der "wohlwollenden Autokratie" heraus.

Erstens die rivalisierenden Strömungen in der Partei. Und zweitens eine kritische Öffentlichkeit. Die äußert sich basisdemokratisch, in Gemeinden oder in den Communitys des Internet; und sie wird die Weisheit der Partei nur so lange akzeptieren, wie Ungerechtigkeiten nicht überhandnehmen und wirtschaftliches Wachstum für Zufriedenheit sorgt.

Fünf Führungswechsel hat das kommunistische China erlebt, drei davon liefen halbwegs geordnet ab. Diesmal drängt eine neue Gruppe an die Spitze, Politiker-Kinder, weniger technokratisch, geprägt vom Reformer Deng Xiaoping und weniger von den frühen Brutalitäten der Kulturrevolution. Diese neue Elite muss China in der schwierigsten Phase der Modernisierung führen - wenn sich das Wachstum verlangsamt und die Welt dem außenpolitischen Akteur China seine Grenzen aufzeigen wird.

Auch USA sind weit entfernt von Idealzustand

Deswegen entwickelt die amerikanische Präsidentschaftswahl Anfang November - in zeitlicher Nähe zum chinesischen Volkskongress - eine besondere Faszination. Auch die USA sind weit entfernt von einem demokratischen Idealzustand. Die Radikalisierung der Politik stößt viele Wähler ab und begünstigt die Extremisten. Die Republikaner segeln mit ihrem populistischen Personal gefährlich nahe am Abgrund. Die Mehrheit im Land glaubt nicht mehr an die gestaltende Kraft der Politik. Der Demokratie-Zynismus ist die größte Wundstelle des Systems. Amerika hat von seiner Strahlkraft als demokratisches Vorbild eingebüßt.

Selten hat die Welt in einem Jahr vier derart hochkarätige Machtentscheidungen vor sich. Alle vier Nationen sind ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, alle vier werden Außenpolitik mit dem Blick auf populäre Stimmung betreiben. Alle vier sind in Versuchung, ihre Bedeutung für die Welt durch eine symbolische Tat der Stärke zu unterstreichen. Das brächte dem amtierenden Personal Anerkennung und würde die Bürger zusammenschweißen.

Vier Nationen, vier Entscheidungen - und am Ende eine Erkenntnis: Am ruhigsten können jene Politiker schlafen, die eine Mehrheit der Menschen hinter sich wissen. Das gibt Gelassenheit und Souveränität. Und wie ließe sich diese Mehrheit besser überprüfen als in freien Wahlen?

© SZ vom 02.01.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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