Verhandlungen zur neuen Regierung:Das hat die Koalition vergessen

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Lange verhandelten Gabriel, Merkel und Seehofer über den Koalitionsvertrag. Doch der lässt einige Fragen offen. (Foto: Getty Images,)

185 Seiten Kompromiss und manche Mutlosigkeit: Union und SPD haben im Koalitionsvertrag einiges vergessen. Vom Mittagessen für Schüler über ein Steuersystem für Ehrliche bis hin zur Drogenpolitik: Die SZ-Redaktion schreibt auf, was fehlt.

Mittagessen für alle Schüler

Politik hat immer auch mit Plattitüden zu tun, mit Sätzen wie "Kinder sind unsere Zukunft", zum Beispiel. In der Gegenwart aber ist die Situation vieler Kinder in Deutschland, man kann es nicht anders sagen, beschämend. Schätzungen zufolge kommt jeder fünfte Grundschüler hungrig zur Schule. Das kann daran liegen, dass die Eltern sparen müssen. Oder daran, dass es in der Familie schlicht kein Bewusstsein für die Bedeutung regelmäßiger, gesunder Mahlzeiten gibt. Jedes 20. Kind in der Bundesrepublik bleibt sogar den ganzen Tag ohne warmes Essen, sagt das Kinderhilfswerk Unicef. Wer nicht ordentlich isst, leistet weniger, kann sein Potenzial nicht ausschöpfen. Mittelfristig bekommt das Problem damit auch eine wirtschaftliche Dimension: Weil Wachstum nichts Dringender braucht als leistungsfähige, gut ausgebildete Menschen. Und: Wer in der Kindheit ein vernünftiges Verhältnis zu Essen aufbaut, wird sich später leichter tun, seinen Körper gesund zu halten. Das entlastet das Gesundheitssystem. Was also hätte im Koalitionsvertrag stehen müssen? Kostenloses, gesundes Mittagessen an allen Schulen in Deutschland. Angelika Slavik

Ein Steuersystem für Ehrliche

Die meisten Menschen sind entschieden der Meinung, sie müssten zu viel an den Staat abgeben. Viele versuchen das zu vermeiden: mit trickreicher, aber legaler Steuergestaltung, oder mit illegaler Steuerhinterziehung. Beliebter Satz: Steuern zahlt nur der Dumme. Bekannt werden schwere Fälle, aber jeder Finanzbeamte weiß: Es schummelt auch der Normalverdiener. Unheimlich viel Grips wird darauf verwandt. Das Steuerrecht ist ein Dickicht, das selbst der Fachmann nicht mehr durchdringt. Jede Wette: Würde man das ganze System neu konzipieren, einfach und transparent, dann würden die Menschen und Firmen ihren Obolus gerne entrichten - und könnten endlich ihre Energie darauf verwenden, mehr zu leisten, statt mehr zu sparen. Aber dazu müsste die Politik einmal sagen: Top, die Wette gilt. Marc Beise

Gutes Klima für alle

Es gab einmal eine Koalition, die hatte richtig was vor im Klimaschutz. So viel, dass sie es in ihrem Vertrag sogar fest verankerte: 25 bis 30 Prozent weniger Kohlendioxid, zu erreichen bis 2005. Das waren Union und FDP, 1990. Das Jahr 2005 kam, das Jahr ging - das Ziel aber blieb verfehlt. Nichts geschah. Ob es 2020 ähnlich wird? Wieder gibt es ein schickes Klimaziel, "mindestens 40 Prozent weniger". Ein Gesetz aber, das die Schritte zum Ziel hätte beschreiben können, vergaßen Union und SPD schnell wieder, so verbindlich soll es dann doch nicht sein. Eine deutsche Führungsrolle im Klimaschutz? Das war einmal. Michael Bauchmüller

Ende der Zweikassenmedizin

Große Koalition? Vielleicht eher große Blockade. Sicher, die Gesundheitsexperten von CDU, CSU und SPD haben sehr viele Dinge angesprochen und vereinbart. Doch ein zentrales Feld haben sie ausgelassen, das der privaten Krankenversicherung (PKV). Kein Wunder: Die Union will eine schleichende Einführung der Bürgerversicherung verhindern und lehnt deshalb Änderungen am System ab. Weil dagegen die SPD die Bürgerversicherung will, verhindert sie Änderungen im System, aus Furcht, die Zweiteilung zwischen gesetzlicher und privater Kasse zu festigen. Also passiert gar nichts. Jedenfalls erst mal. Tatsächlich spielen die Beteiligten PKV-Mikado: Wer fällt als erster um? Beiden Seiten ist klar, dass die Debatte über die steigenden Prämien anhält. Die Union setzt darauf, dass die SPD aus sozialer Motivation einknicken wird, weil die Preisentwicklung der PKV vor allem Rentner trifft. Die SPD geht davon aus, dass die meisten Privatversicherten die Union wählen und dass der Ärger daher dort aufläuft. Eines wird man in dieser Legislatur daher nicht sehen: das Ende der Zweiteilung des Gesundheitssystems. Guido Bohsem

100 Prozent Kita-Quote

Die Sache klingt wirklich gut. Seit Sommer haben Kinder bis zum dritten Lebensjahr das Recht auf einen Kita-Platz. Ein Recht, ja. Doch der Kita-Platz ist nicht da - besonders in den Ballungsräumen. Noch nicht einmal jedes zweite Kleinkind wird in Kitas oder bei Tageseltern betreut. Nun ist unklar, ob der Rest tatsächlich einen Kita-Platz sucht. Doch Defizite in der Familienpolitik sind mitverantwortlich für die niedrige Geburtenrate in Deutschland, fand das Max-Planck-Institut für demografische Forschung heraus. Trotz Kita-Ausbaus liegt Deutschland hinter vielen anderen europäischen Ländern. Was ist zu tun? Der Staat muss die Unternehmen in die Pflicht nehmen. Er muss den Firmen aufgeben, Betreuungsplätze für jene Kinder zu schaffen, deren Eltern bei ihnen beschäftigt sind. Nicht nur Kleinkinder, auch Schüler brauchen jemanden, der sich am Nachmittag um sie kümmert. Der ihnen bei den Hausaufgaben hilft. Die Wirtschaft profitiert von gut ausgebildeten Männern und Frauen, gerade angesichts des drohenden Mangels an Fachleuten. Damit deren Wissen und Fähigkeiten nicht verloren gehen, braucht es die Betreuung der Kinder direkt am Ort, in den Firmen. Sibylle Haas

Unternehmen sollten mehr Betreuungsplätze für Kinder schaffen. (Foto: Stephan Rumpf)

Erde auf, Breitband rein

Licht, Elektrogeräte, Heizung - alles vernetzt im smarten Heim, in Industriebetrieben kommunizieren die Roboter miteinander, auf den Straßen die Autos. Aber all diese Zukunftsträume platzen, wenn nicht die Grundvoraussetzung dafür geschaffen wird: ein möglichst schnelles Datennetz, das nicht nur dort ausgebaut wird, wo es sich für kommerzielle Anbieter lohnt, sondern überall. Weil man es braucht wie Wasser und Strom. Der Staat muss dort helfen, wo es der Markt alleine nicht richtet: zum Beispiel beim Verbuddeln der Kabel auf dem Land. Helmut Martin-Jung

Rückhalt für Datenschützer

NSA, Google, Big Data, Amerika macht uns Angst. Die Politik verspricht zu verhandeln, aber alles bleibt sehr vage. Warum also nicht mal etwas Pragmatismus wagen? Angela Merkel sollte sich einen Termin bei Google-Chef Larry Page (Foto) holen - und ihm einen Deal vorschlagen: Ich lege für euch ein gutes Wort bei Präsident Barack Obama ein, damit der seine Geheimdienste nicht einfach an eure Server lässt. Und im Gegensatz begnügt ihr euch in Deutschland damit, ein paar weniger Daten zu sammeln - oder euch zumindest mal an die hiesigen Gesetze zu halten, ehe erst ein Datenschützer Alarm schreit. Varinia Bernau

Ein Rasenmäher für den Haushalt

In einer fernen Vergangenheit war die Forderung nach Subventionskürzungen einmal ein ebenso fester wie bedeutsamer Bestandteil aller Wahlprogramme der Union. Heute findet sich im Koalitionsvertrag gerade noch ein läppischer Satz zum Thema - und das ist nicht mal Schuld der SPD! Es war vielmehr Horst Seehofer, der wieder einmal eine seiner atemberaubenden 180-Grad-Wenden vollzog: Er lehnte jedweden Abbau von Subventionen mit dem Argument ab, dass dies für die Betroffenen zu einer Mehrbelastung führe, Mehrbelastungen aber darf es mit der CSU, klar, nicht geben. Dabei haben vor allem Steuersubventionen den großen Nachteil, dass sie nie nur denen zugute kommen, für die sie gedacht waren, sondern immer Trittbrettfahrer auf den Plan rufen und unternehmerische Entscheidungen verzerren. Und einmal eingeführt, wird man sie nie wieder los. Deshalb hilft nur: der Rasenmäher - eine gleichmäßige Kürzung praktisch aller Subventionen um beispielsweise zehn Prozent also. Dann kann keine Interessengruppe mehr behaupten, schlechter als alle anderen behandelt zu werden. Und das eingesparte Geld lässt sich sinnvoll verwenden. Außer, Horst macht seine nächste 180-Grad-Wende. Claus Hulverscheidt

Freie Fahrt für Investitionen

Im Wahlkampf schien alles klar zu sein. Die wachsenden Verkehrsstaus, Fahrbahnschäden und gesperrte Autobahnen sowie einsturzgefährdete Bahnbrücken aus dem vorletzten Jahrhundert machen ein Umdenken nötig. Die Milliarden würden nur so fließen, das war der Eindruck. Im Koalitionsvertrag liest sich das anders. "Wir werden in den nächsten vier Jahren die Bundesmittel für Verkehrsinfrastruktur substanziell erhöhen", heißt es in dem Papier nur noch lapidar. Aber was ist substanziell? Die künftige Koalition wird pro Jahr etwas mehr als eine Milliarde Euro zusätzlich in Straßen wie Schienen, aber auch in Bildung sowie in Forschung und Entwicklung stecken. Viel zu wenig, wie Fachleute wissen. In den zurückliegenden Jahren seien pro Jahr vier Milliarden Euro zu wenig für die Verkehrswege ausgegeben worden, rechneten die Forscher des DIW vor. Allein die Bahn braucht pro Jahr 1,2 Milliarden Euro mehr, nur um ihre Netze zu erhalten. Die große Koalition wird dem Verfall des technischen Rückgrats der Wirtschaft weiter zuschauen. Die wichtigste Industrienation Europas plant die Fortsetzung des Lebens von der Substanz zu Lasten der Zukunft. Karl-Heinz Büschemann

Erbarmen für Stromkunden

Union und SPD hatten vor der Wahl die spürbare Entlastung der Verbraucher beim Strompreis versprochen. Doch mit ihren Plänen zur Energiewende vergeben sie die Chance, die Lasten fairer zu verteilen. Die Stromrechnung der Deutschen wird weiter steigen, denn ein großer Teil der Preissteigerung geht auf Industrie-Ausnahmen und gesunkene Börsenpreise zurück. Statt die umstrittenen Ausnahme wie von der SPD versprochen einzudämmen und die Zahl der Unternehmen, die von der Ökostrom-Umlage weitestgehend befreit sind, stark zu reduzieren, schützen die Parteien stromfressende Konzerne. Union und SPD bewahren sie vor Einschnitten, die Otto-Normalverbraucher entlasten würden. Da hilft nur: Mehr Mut für eine Politikwende. Markus Balser

Eine Haltung in der Drogenpolitik

Eine Haltung zu Suchtmitteln wie Alkohol fehlt. (Foto: dpa)

Die Idee, Dinge zu konsumieren, die das eigene Bewusstsein verändern, mag man grundsätzlich gut oder schlecht finden. Fest steht: Deutschland berauscht sich, Tag für Tag. Manche greifen dafür zu Alkohol, das ist gesellschaftlich akzeptiert und uneingeschränkt legal. Andere greifen zu einem Joint. Das ist in Teilen der Gesellschaft verpönt und in anderen selbstverständlich - juristisch ist es ein Problem. Und es ist eine Regelung, die viele Gegner kennt. Da sind Strafrechtler, Drogenforscher und, ja, Wirtschaftswissenschaftler, die für eine Freigabe von Cannabis plädieren. Der Harvard-Ökonom Jeffrey Miron etwa nennt ein Drogenverbot "die schlechteste Lösung": Weil es den Schwarzmarkt fördere und dem Staat Milliarden Steuereinnahmen entgehen. Und weil man Menschen zutrauen könne, mit Suchtmitteln aller Art verantwortungsvoll umzugehen. Natürlich kann man das Thema auch anders betrachten. Man könnte feststellen, dass die Gesellschaft schon süchtig genug ist. Könnte glauben, dass Drogen aller Art nur der Anfang eines dramatischen Abstiegs sind. In jedem Fall gehört die Drogenpolitik zu den drängendsten Fragen unserer Zeit. Eine Regierung muss dazu eine Haltung haben. Angelika Slavik

© SZ vom 14.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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