Transatlantische Beziehungen:"Dies scheint das Ende einer Ära zu sein"

Die Bundeskanzlerin sagt in einem Münchner Bierzelt, Europa müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Vor allem in den USA sorgen die Äußerungen für gewaltige Aufregung. Eine Presseschau.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Europäer gestern aufgerufen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei", sagte Merkel in einer Bierzeltrede. Und ganz offensichtlich mit Blick auf US-Präsident Donald Trump. Am Samstag war auf dem G-7-Gipfel im sizilianischen Taormina ein gemeinsames Bekenntnis zu den Pariser Klimaschutzzielen am Widerstand Trumps gescheitert.

Die internationalen Reaktionen darauf sind gewaltig. Vor allem in den USA haben die Aussagen ein großes Medienecho ausgelöst. Die großen Zeitungen und Medienhäuser berichten darüber an prominentester Stelle auf ihren Webseiten.

New York Times, USA

"Frau Merkels starke Äußerungen sind möglicherweise eine richtungsweisende Veränderung in den transatlantischen Beziehungen. Wenn die USA weniger bereit sind, sich im Ausland zu engagieren, wird Deutschland eine zunehmend dominante Macht in einer Partnerschaft mit Frankreich." "Dies scheint das Ende einer Ära zu sein, einer, in der die USA führten und Europa folgte", zitiert die Times den früheren Nato-Gesandten Ivo H. Daalder, jetzt Direktor des Chicago Council on Global Affairs

Washington Post, USA

"Dies ist ein enormer Umschwung in der politischen Rhetorik", schreibt die Washington Post. Die Nato sei einst gegründet worden, wie der erste Generalsekretär des Bündnisses sagte, um "die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drin, und die Deutschen unten." "Jetzt deutet Merkel an, dass die Amerikaner nicht wirklich drin sind, und, darüber hinaus, dass Deutschland und Europa wahrscheinlich eine sehr viel grundlegendere und unabhängigere Rolle übernehmen werden als in den vergangenen 70 Jahren", heißt es weiter in dem Text.

Die Zeitung deutet Merkels Aussagen darüber, was sie in den vergangenen Tagen erlebt habe, als "klare Referenz auf Präsident Trumps desaströse Europa-Tour." Die Post kommt zu dem Entschluss: "Ihre Ansicht, dass die USA kein verlässlicher Partner mehr sind, ist ein direktes Ergebnis von Trumps Worten und Taten."

Politico, USA

"Obwohl Timing alles in der Politik ist - Merkels Äußerungen erfolgten nur Stunden nach einem polarisierenden G-7-Gipel - wäre es ein Fehler, zu viel in die Sache hineinzuinterpretieren. Es ist möglich, dass der Sonntag den Beginn einer tektonischen Verschiebung weg von den USA markiert, aber es ist auch zu früh, um das mit Gewissheit zu sagen." Politico gibt auch der Ort der Rede zu denken. Merkel, die schon immer eine vorsichtige Anführerin gewesen sei, würde nach Auffassung des Portals wohl kaum eine bayerische Bierparty wählen, um den Dreh weg von den USA zu verkünden.

La Repubblica, Italien

"Merkel hat Tacheles geredet mit Blick auf das Benehmen des amerikanischen Präsidenten. 'Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Das habe ich in den letzten Tagen erlebt', also in der Auseinandersetzung mit Trump während dessen ersten zwei Etappen in Europa, auf dem Nato-Gipfel von Brüssel und beim Gipfel der großen Sieben auf Sizilien. Und die Kanzlerin hat, nicht zufällig, einen Satz wiederholt, den sie bereits anderntags bei der Ankunft von Trump gesagt hatte: 'Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen'. Ungewöhnlich schonungslose Sätze für die christdemokratische Anführerin, die normalerweise dazu neigt, versöhnliche und mildere Töne anzuschlagen."

El País, Spanien

"Der G-7-Gipfel von Taormina ist - wie vorhersehbar war - gescheitert. Mit seiner Haltung während der Sitzung hat Donald Trump erneut gezeigt, dass seine Ideen (sie in die Kategorie Politik zu erheben wäre übertrieben) potenziell ein schweres Hindernis für den internationalen Handel und für jede Initiative darstellen, die den Klimawandel aufhalten will (...). Als Angela Merkel die Verhandlungen als 'schwierig und unzufriedenstellend' bezeichnet hat, hat sie sich wahrscheinlich noch diplomatisch gezeigt."

De Tijd, Belgien

"Die Antwort auf den Bulldozer-Präsidenten kam aus einem Bierzelt in München. (...) Die deutsche Kanzlerin hat erkennbar die Nase voll vom amerikanischen Präsidenten. Nach einem bemerkenswerten Besuch im Weißen Haus, bei dem Merkel bereits sichtlich von ihrem Gastgeber genervt war, seinen Auftritten im neuen Nato-Gebäude und beim G-7-Gipfel in Taormina, reicht es Berlin nun. Washington wird nicht länger als vertrauenswürdiger Mitstreiter angesehen. Europa muss nun allein weitermachen. In aller Freundschaft übrigens. Merkel ist keine Frau, die Menschen von vornherein ausschließt. Aber sie ist auch jemand, der einmal getroffene Entscheidungen nicht so leicht wieder ändert. Das Bierzelt in München könnte daher sehr wohl ein Wendepunkt in den transatlantischen Beziehungen sein."

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