Taktisches Wählen bei Bundestagswahl:Oh weh, Wahlomat

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Das neue Fünf-Parteien-System konfrontiert nicht nur Politiker mit einer verwirrenden Fülle von Optionen, sondern auch die Wähler. Aber taktisches Wählen wird dadurch nicht einfacher.

Gustav Seibt

Nur in einem Zwei-Parteien-System mit großen, durch soziale Milieus und übergreifende Weltanschauungen befestigten Lagern hat taktisches Wählen überhaupt keinen Spielraum. Hier genügt schon eine programmatische Übereinstimmung von mindestens 51 Prozent, um sich etwa für die sozialistische oder die christdemokratische Partei zu entscheiden. In dem für die Bundesrepublik lange Zeit gültigen Drei-Parteien-System kam schon ein taktischer Gesichtspunkt hinzu, nämlich das Überleben des kleinen Dritten, der FDP, als mehrheitsichernden Partners einer sozialliberalen oder aber "bürgerlichen" Mehrheit; zumal die kleine liberale Fraktion oft der kleineren der beiden großen Volksparteien zur Regierung verhelfen konnte.

Wer taktisch wählen möchte, muss sich genau überlegen, wo er sein Kreuz macht. (Foto: Foto: dpa)

Daher wurde die FDP als "Funktionspartei" bezeichnet - sie war schon bald nach Gründung der Bonner Republik nicht mehr nur die Partei eines altmodischen "liberalen Milieus", sondern geriet zum Sammelbecken einer agilen Minderheit taktisch denkender Wechselwähler, die mit den Liberalen das Gewicht ihrer Wahlstimmen erhöhten. Aber in einer Drei-Parteien-Konstellation waren Mittel und Zwecke taktischen Wählens noch in Sichtabstand.

Wie sehr sich das jetzt im Fünf-Parteien-System, nicht zuletzt durch die auf Länderebene bewiesene Offenheit der Grünen verändert hat, das zeigt die jüngste Ausgabe der Zeit in einer hübschen Info-Grafik, die die Möglichkeiten für "Überzeugungswähler" und für "taktische Wähler" getrennt aufführt. "What you see is not necessarily what you get", so ließe sich das Resultat zusammenfassen.

Umwege sind erlaubt

Der taktische Wähler rechnet realistisch auf jeden Fall mit einer Koalition, also damit, dass keine der einstigen Volksparteien über die 50 Prozent kommt. Wenn er beispielsweise Schwarz-Gelb will, ist der realistische Wähler selbst als CDU-Anhänger gut beraten, nicht Schwarz, sondern Gelb zu wählen, weil er damit immerhin zu 80 Prozent sicher sein kann, dass seine Stimme das von ihm gewünschte Bündnis befördert. Stimmt er dagegen für die CDU, muss er mit den mathematisch gleichen Chancen für Schwarz-Rot oder gar Schwarz-Grün rechnen; tatsächlich ist allerdings eine Fortsetzung der großen Koalition wahrscheinlicher.

Ein bei der Zeit gar nicht vorgesehener, aber nicht völlig aus der Welt liegender taktischer Denkumweg geht so: Man ist SPD-Anhänger, hält es aber für unwahrscheinlich, dass diese Partei derzeit die CDU überrundet; zugleich glaubt man, dass nichts für die SPD so zerstörerisch sein würde wie die Fortsetzung der großen Koalition. Was tun? Dieser taktisch denkende, aber sonst reinherzige SPD-Anhänger muss seine Stimme so vergeben, dass sie auf keinen Fall eine große Koalition befördert. Er müsste sich also die Wäscheklammer auf die Nase setzen und FDP wählen.

So weit wird kaum ein Freund der SPD gehen wollen, aber die Überlegung zeigt doch, was die neue Optionenvielfalt beim Wähler bewirkt. Das uralte, immer neu formulierte Problem von "Gesinnungsethik" und "Verantwortungsethik" erwischt ihn unabweisbarer als je zuvor in der deutschen Nachkriegsdemokratie. Soll er seinen Überzeugungen folgen und ganz von ja durchaus absehbaren Konsequenzen absehen? Oder soll er Wetten auf denkbare Konstellationen eingehen?

Bei solchen Wetten ist man schnell im Aschgrauen - siehe das Beispiel des FDP-wählenden SPD-Freundes -, zumal sie widersinnig werden, wenn alle Wähler sich in dieser Weise "verantwortungsethisch" verhalten. Aber es gibt doch Sachfragen! Was haben die Parteien hier zu sagen, wie stimmen sie mit meinen Überzeugungen zusammen? Dafür gibt es bekanntlich im Internet den " Wahlomaten".

Die zur eigenen Gesinnung passende Partei

Hier kann man vom Inlands-Einsatz der Bundeswehr, über die Online-Untersuchung bis zu Mindestlohn, Managergehältern oder dem EU-Beitritt der Türkei seine höchstpersönlichen Meinungen anklicken, diese danach noch gewichten und sich am Ende die Parteien mit den meisten Übereinstimmungen ausrechnen lassen.

Aber, oh weh: Auch im Wähler selbst gibt es längst ein Fünf-Parteien-System, ja in dem des Feuilletonisten sogar ein Sechs-Parteien-Parlament: Bei ihm nämlich kam zu seiner Überraschung die Piratenpartei auf den dritten Platz, in einem Wettrennen, bei dem alle fünf im Bundestag vertretenen Fraktionen Kopf an Kopf ins Ziel liefen. Denn ja, es ist natürlich möglich, für Mindestlöhne zu sein und die Begrenzung von Managergehältern trotzdem für Unsinn zu halten.

Demokratie kann allerdings immer nur in einem Mix von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bestehen. Ohne Überzeugungen geht es nicht; aber wenn sich eine einzige als "richtig" vollständig durchsetzen würde, wären die Machtbalancen des Verfassungsstaats schnell obsolet. Was heißt das in der Praxis? Umwege sind erlaubt, aber von weiten Umwegen ist unbedingt abzuraten.

© SZ vom 10.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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