Polen: Tragödie von Smolensk:Narben, die nicht heilen

Lesezeit: 3 min

Ein Jahr nach dem Absturz des Flugzeugs des polnischen Präsidenten Kaczynski bei Smolensk ist das Land noch immer gespalten. Erbittert wird über die Schuldfrage gestritten - und Verschwörungstheorien werden weiter gesponnen.

Thomas Urban, Warschau

Ein Jahr nach dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine in dichtem Nebel unweit des Militärflughafens der russischen Stadt Smolensk wird an der Weichsel nach wie vor heftig über die Verantwortung dafür gestritten.

Das Wrack der Tupolew Tu-154, in der am 10. April 2010 neben Präsident Lech Kaczynski auch viele andere Mitglieder der polnischen Elite ums Leben kamen. (Foto: AFP)

Bei dem Unglück am 10. April 2010 waren der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski sowie weitere 96 Personen an Bord umgekommen, darunter führende Abgeordnete, mehrere Behördenchefs, die fünf höchsten Generäle, mehrere Priester und Vertreter des Verbandes der Opfer von Katyn. Die polnische Delegation war auf dem Weg zu einer Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Massakers von Katyn, bei dem der sowjetische Geheimdienst unweit dieses westrussischen Dorfes insgesamt 4410 polnische Offiziere und Intellektuelle erschossen hatte.

Zwar hat die russische Untersuchungskommission im Januar ihren Abschlussbericht vorgelegt, doch wurde dieser von der politischen Führung in Warschau als unvollständig scharf kritisiert. In der Tat findet sich dort keine Analyse der Tätigkeit der Fluglotsen, auch geht der Bericht nicht auf die veraltete und teilweise schadhafte technische Ausrüstung des Flughafens ein.

Die russischen Experten gaben stattdessen die Alleinschuld der Besatzung der polnischen Tupolew. Der Pilot und der Navigator hätte angesichts der Wetterbedingungen den Landeanflug abbrechen müssen, der Navigator habe zwei Höhenmesser verwechselt und so falsche Angaben über den Abstand zum Boden gemacht. Der Navigator hatte demnach eine Bodensenke wenige hundert Meter vor der Landebahn übersehen, die Maschine war in ein zum Flugplatz aufsteigendes Waldstück gerast. Da es sich in der Senke befand, hatten es die Fluglotsen vorübergehend vom Radarschirm verloren.

Polnischer General war im Cockpit

Als Mitverantwortlichen benennt der russische Bericht den Oberkommandierender der polnischen Luftstreitkräfte, General Andrzej Blasik. Dieser habe sich vorschriftswidrig im Cockpit befunden und den Piloten Anweisungen gegeben. In Blasiks Blut ist dem Bericht zufolge 0,6 Promille Alkohol festgestellt worden. Die durch die internationalen Medien gegangenen Meldungen vom "betrunkenen General" als Hauptschuldigen haben indes die Anhänger des verstorbenen Präsidenten und dessen Zwillingsbruders, des national-konservativen Oppositionsführers Jaroslaw Kaczynski, aufs Höchste empört.

Kaczynski warf Premierminister Donald Tusk vor, das Verfahren naiv der russischen Seite überlassen zu haben, anstatt auf eine polnische Beteiligung zu bestehen. Von Warschauer Seite war nur ein ständiger Beobachter, der frühere polnische Luftwaffenoberst Edmund Klich, bei der Untersuchungskommission zugelassen.

Polen nimmt Abschied vom Präsidentenpaar
:Kaczynskis letzter Weg

Von Warschau aus werden die Särge von Lech und Maria Kaczynski in die Königsstadt Warschau überführt - per Flugzeug und trotz Aschewolke. Polens Abschied vom Präsidentenpaar in Bildern.

Polnische Experten stellen die Fehler der Besatzung nicht in Frage, doch sind sie übereinstimmend der Auffassung, dass auch den russischen Fluglotsen ein Teil der Schuld zukommt. So hätten diese angesichts des dichten Nebels und der unzureichenden elektronischen Einrichtungen des Flughafens den Vorschriften zufolge die Landung überhaupt nicht erlauben dürfen.

Das Präsidentenpaar liegt in der Wawel-Kathedrale in Krakau begraben. Dort liegen die größten Könige sowie die bedeutendsten Freiheitskämpfer des Landes begraben. Viele Polen hatten eine andere Ruhestätte für Lech und Maria Kaczynski bevorzugt. (Foto: dpa)

Das von polnischer Seite für die Untersuchung zuständige Innenministerium veröffentlichte das Protokoll der Gespräche zwischen den Fluglotsen und dem Cockpit; sie lassen auf große Ratlosigkeit auch auf russischer Seite schließen. Während des Anflugs der polnischen Maschine fragten die Lotsen telefonisch bei ihrer vorgesetzten Dienststelle an, ob sie wegen des Nebels die Landeerlaubnis verweigern sollten. Doch wurde keine Entscheidung getroffen. Die Moskauer Presse spekulierte, der Kreml habe ein Verbot vermeiden wollen, da dies als politischer Affront habe gewertet werden können.

Auch belegt die Aufzeichnung den polnischen Experten zufolge, dass die Fluglotsen die Maschine ohnehin auf den falschen Kurs geleitet hatten. Selbst wenn sie nicht zu niedrig geflogen wäre, hätte sie gar nicht die Landebahn getroffen, da der von den Lotsen mehrmals bestätigte Kurs mehrere Grad von der verlängerten Achse der Landebahn abwich. Bei einer Wolkentiefe von 100 Metern über dem Boden wäre dieser Fehler nicht mehr zu korrigieren gewesen.

Verschwörungstheorien halten an

Die Warschauer Staatsanwaltschaft, die unabhängig von der russischen Seite die Unterlagen auswertete, legte vor einer Woche einen Zwischenbericht vor, der einen Anschlag ausschließt. Doch nach wie vor sind namentlich in der klerikal-nationalen Presse Verschwörungstheorien ausgebreitet, beginnend damit, dass die Russen künstliche Nebelbänke gelegt hätten.

Die Kritiker Tusks erheben indes einen schwerwiegenden Vorwurf anderer Natur: Sie werfen ihm die Schuld daran vor, dass es überhaupt zu jenem verhängnisvollen Flug am 10. April gekommen ist. Denn drei Tage zuvor fand die offizielle polnisch-russische Katyn-Gedenkfeier statt. Da der Gastgeber aber der russische Premier Putin war, wurde aus protokollarischen Gründen auch der polnische Premier, nicht aber der Präsident Kaczynski, Tusks innenpolitischer Gegner, eingeladen.

Tusk wird vorgehalten, er habe Putin die Möglichkeit gegeben, in einer für alle Polen so fundamental wichtigen Frage, wie dem Gedenken an Katyn, die Warschauer Führung zu spalten. Tusk hätte akzeptieren müssen, dass die Delegation an diesen Schmerzensort der polnischen Geschichte der Präsident als die Nummer eins im Staat und nicht der Premier als die Nummer fünf anführe. Protokollarisch stehen über dem Regierungschef noch die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern sowie der Präsident des Verfassungsgerichtes.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lech Kaczynski ist tot
:Vom Kinderstar zum Präsidenten

Mit seinem Bruder führte Lech Kaczynski Polen in der "Zwillingsrepublik", seit 2005 war er Staatspräsident. Nun ist er bei einem Absturz gestorben. Sein Leben in Bildern

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: