Labour Party:Nach dem Brexit droht Labour die Katastrophe

Labour Party: Hat zwei Drittel seines Schattenkabinetts verloren: Labour-Chef Jeremy Corbyn, hier bei einer "Keep Corbyn"-Demonstration in London.

Hat zwei Drittel seines Schattenkabinetts verloren: Labour-Chef Jeremy Corbyn, hier bei einer "Keep Corbyn"-Demonstration in London.

(Foto: AP)
  • Gut drei Viertel seiner Fraktion haben Labour-Chef Jeremy Corbyn das Misstrauen ausgesprochen; außerdem hat er zwei Drittel seines Schattenkabinetts verloren sowie mindestens 20 weitere wichtige Mitarbeiter.
  • Corbyn hatte nur halbherzig für den Verbleib Großbritanniens in der EU geworben.
  • Trotz des Misstrauensvotums will Corbyn seinen Posten behalten.
  • Sollte er dem Druck tatsächlich nicht nachgeben, dürfte er bei einer neuen Urwahl bestätigt werden, denn sein Rückhalt an der Basis ist groß.
  • Falls es zu Neuwahlen kommt, droht der zerstrittenen Partei eine Katastrophe.

Von Christian Zaschke, London

Die Krise der britischen Labour-Partei ist so dramatisch, dass die Parlamentarier mittlerweile in zynischen Sprüchen Zuflucht suchen. Der beliebteste geht so: Erst demonstrativ auf die Uhr schauen, dann überrascht feststellen, "huch, es ist ja schon seit fünf Minuten niemand mehr zurückgetreten". Am Montag und am Dienstag war ein Rücktritt auf den nächsten gefolgt. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat zwei Drittel seines Schattenkabinetts verloren, zudem mindestens 20 weitere Mitarbeiter, die wichtige Posten in der Partei innehatten.

Zwischen dem Chef und der Fraktion ist eine Auseinandersetzung entbrannt, die ein Abgeordneter als "Blutbad" beschrieb. Am Dienstag stimmten die Abgeordneten in geheimer Wahl darüber ab, ob sie Corbyn das Misstrauen aussprechen sollten, und am Abend wurde klar: Mehr als drei Viertel der Fraktion haben gegen den Chef gestimmt.

Die Revolution innerhalb der Partei ist in damit vollem Gange. Die Mehrheit der Fraktion stand dem Altlinken Corbyn von Beginn an skeptisch gegenüber. Völlig überraschend war er vor neun Monaten von der Parteibasis zum Vorsitzenden gewählt worden, als Anti-Establishment-Kandidat, und seither brodelt es beständig zwischen dem Chef und vielen Abgeordneten.

Nach dem Referendum über die EU-Mitgliedschaft ist der Konflikt offen ausgebrochen, weil weite Teile der Fraktion der Ansicht sind, Corbyn habe nicht genug dafür getan, einen Austritt aus der EU zu verhindern. Tatsächlich hatte er eher halbherzig für den Verbleib geworben, weil er in der EU-Mitgliedschaft auch Gefahren für die Rechte von Arbeitnehmern wähnte und die Union zumindest in Teilen als Projekt der Eliten ansieht. Er sei zu immerhin 75 Prozent pro-europäisch, sagte er während des Wahlkampfs. Der Ärger über Corbyns Zurückhaltung ist so groß, dass manche seiner partei-internen Gegner nun fragen, ob er wirklich, wie er sagt, für den Verbleib gestimmt hat.

Corbyn zeigte sich äußerlich unbeeindruckt von der Revolte. Nachdem ihm 20 Schattenminister von der Fahne gegangen waren, setzte er einfach 20 neue ein. Auf Forderungen nach seinem Rücktritt reagierte er nicht. "Er will es nicht wahrhaben", sagte der Abgeordnete Frank Field. Seine Kollegin Angela Eagle, vormals Labours Sprecherin für Wirtschaftsfragen, erzählte: "Oft antwortet Jeremy auf Fragen nicht. Er nimmt sie einfach auf."

Angela Eagle gilt als mögliche Gegenkandidatin

Eagle gilt als mögliche Gegenkandidatin, falls es zu einer Kampfabstimmung über den Vorsitz kommt. Das gilt als höchst wahrscheinlich, da Corbyn nicht gewillt ist, sich dem Willen der Fraktion zu beugen. Seine Unterstützer verweisen darauf, dass er die Urwahl vor neun Monaten mit einem Rekordergebnis gewonnen habe und deshalb über ein starkes Mandat verfüge.

Dass es zu dem Misstrauensvotum kommen würde, war spätestens seit Montagabend klar, als die Fraktion zu einer äußerst lebhaften Sitzung im Parlamentsgebäude in Westminster zusammenkam. Corbyn eröffnete das Treffen damit, dass er auf seine Erfolge verwies. Er wurde dabei laufend von Zwischenrufen unterbrochen. Ein Abgeordneter wurde vom Sitzungsleiter ermahnt, er möge sich doch bitte mäßigen. "Ich mache damit einfach weiter", rief der daraufhin erbost.

Verschiedene Abgeordnete appellierten an Corbyn, von sich aus aufzugeben. Margaret Hodge, die das Misstrauensvotum initiiert hatte, sagte: "Ich appelliere an deinen Anstand: Tritt zurück! Das ist das Wichtigste, was du der Partei geben kannst." Es können keine angenehmen Momente für Corbyn gewesen sein, als anschließend ein Parlamentarier nach dem anderen seine Führungskraft in Frage stellte. "Du bist eine Bedrohung für die Zukunft der Partei", sagte einer. "Glaubst du wirklich, du könntest Premierminister sein? Ich glaube das nicht", rief ein anderer. Das waren im Vergleich noch die freundlichen Wortmeldungen.

An den Mehrheitsverhältnissen an der Basis hat sich nichts geändert

Corbyns Unterstützer wiesen die Rücktritts-Forderungen zurück. Schatten-Finanzminister John McDonnell sagte, Corbyn gehe nirgendwohin, er bleibe Chef. Wenn "eine Handvoll Abgeordneter" einen neuen Chef wolle, dann sollten sie eben versuchen, eine neue Urwahl anzuberaumen. Auf dieser werde Corbyn wieder antreten. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass nach der Sitzung zwei massiv streitende Abgeordnete von ihren Kollegen voneinander getrennt werden mussten.

Sollte Corbyn dem Druck nicht nachgeben, ist es wahrscheinlich, dass er in einer neuerlichen Urwahl bestätigt wird. Das liegt daran, dass die Partei vor der Wahl im vergangenen Jahr die Möglichkeit geschaffen hatte, sich für einen Beitrag von drei Pfund zu registrieren und mitstimmen zu dürfen. Davon haben besonders junge Wähler Gebrauch gemacht. Gemeinsam mit dem linken Arbeiterflügel stimmten sie mit großer Mehrheit für Corbyn, der für ein Ende des wirtschaftsfreundlichen Kurses der Mitte steht, den Tony Blair und sein Nachfolger Gordon Brown der Partei seit den Neunzigerjahren verordnet hatten. An den Mehrheitsverhältnissen an der Basis hat sich nichts geändert, und die Corbyn-freundliche Bewegung "Momentum" hat angekündigt, zudem rasch bis zu 100 000 neue Aktivisten organisieren zu können.

Die Frage ist allerdings, wie es für die Partei weitergehen soll, wenn weite Teile der Fraktion nicht mehr mit dem Chef zusammenarbeiten wollen. Sollten die Konservativen tatsächlich im Herbst Neuwahlen anberaumen, um ein starkes Mandat für die Austrittsverhandlungen mit der EU zu haben, droht Labour eine Katastrophe. Ein Abgeordneter fragte: "Wie sollen wir die Wähler davon überzeugen, dass Jeremy der richtige Premier wäre, wenn nicht einmal wir selber daran glauben?"

Die Partei erreichte ihre traditionellen Unterstützer nicht

Beim Referendum haben vor allem ehemalige Labour-Stammwähler in strukturschwachen Gebieten für den Austritt gestimmt. Die Partei erreichte ihre traditionellen Unterstützer nicht, was darauf hindeuten könnte, dass es ihr demnächst in England so ergeht wie in Schottland: Dort gewann Labour bei den letzten Wahlen zum Parlament von Westminster lediglich einen von 59 Sitzen.

In der Fraktion gilt mittlerweile auch eine Spaltung nicht mehr als ausgeschlossen zwischen denen, die eine gemäßigte linke Linie bevorzugen, und jenen, die wie Corbyn die Partei eher sozialistisch ausrichten wollen. Das könnte beide Seiten so schwächen, dass Labour sich in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet. Profitieren könnte von diesem epischen Streit die EU-feindliche UK Independence Party, die sich Zulauf von den Wählern erhoffen kann, die Immigration als ihre größte Sorge nennen. Andere vormalige Labour-Wähler könnten sich den Liberaldemokraten zuwenden, die angekündigt haben, auf einen pro-europäischen Wahlkampf zu setzen.

Im Vergleich zum Chaos bei Labour geht es bei den ebenfalls zerstrittenen Konservativen vergleichsweise geordnet zu. Im Laufe dieser Woche werden sich die möglichen Nachfolger David Camerons als Parteichef bewerben. Finanzminister George Osborne hat am Dienstag erklärt, er werde nicht zu diesem Kreis gehören. Die Abgeordneten werden das Feld auf zwei Anwärter verkleinern, über die dann die Parteibasis abstimmt. Das Ergebnis wird am 9. September bekanntgegeben. Wer immer diese Wahl gewinnt, übernimmt nicht nur den Vorsitz der Tories, sondern auch das Amt des Premierministers.

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